- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Im Gleichschritt zur Diktatur? Der "Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten" in der Harzburger Front1
Anke Hoffstadt, Hannover
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"Rechts ist Trumpf!" - Die Harzburger Front als Beziehungsgeschichte
Der 13. Oktober 1931, ein Dienstag, war für den Fortbestand der Regierung Heinrich Brünings
ein wichtiger Tag. Denn seit beinahe sechs Monaten hatte die parlamentarische Demokratie in
einer Art künstlichem Koma verharrt, nachdem am 10. Februar dieses Jahres die Fraktionen der
Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der DNVP und des Landvolks durch ihren Aus-
zug aus dem Berliner Parlament jede weitere Regierungsarbeit unmöglich gemacht hatte. Mit
der ersten Sitzung des wiedereröffneten Reichstages sollte sich nun erweisen, ob der Reichs-
kanzler den angekündigten Misstrauensanträgen von Seiten der antirepublikanischen Kräfte im
Parlament widerstehen können würde.
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Ohne zu diesem Zeitpunkt zu wissen, wie sich die Situation der Weimarer Republik weiter ent-
wickeln würde, veröffentlichte der Journalist Carl von Ossietzky am selben Tag, dem
13. Oktober, in seiner Wochenzeitung "Die Weltbühne" eine wenig optimistische Analyse der
Lage.
3 Denn gerade das vorausgegangene Wochenende hatte reichlich politischen Sprengstoff
im Gepäck gehabt: nicht nur, dass am Samstag der Parteivorsitzende der NSDAP, Adolf Hitler,
zum ersten Mal unter dem Jubel Hunderter SA-Männer zur Audienz bei Reichspräsident Hinden-
burg geladen gewesen war
4 - mehr noch: an diesem Wochenende waren im braunschweigisch-
en Bad Harzburg die führenden Kräfte der sogenannten Nationalen Opposition zusammenge-
kommen, begleitet von ihren einige tausend Mann starken paramilitärischen Formationen. Mit
dieser gemeinsamen Heerschau wollten sie ihrer Forderung nach nicht weniger als dem Sturz
Brünings Ausdruck verleihen. Die Parteiführungen und Spitzenfunktionäre der Verbände von
NSDAP, DNVP, Reichslandbund, Alldeutschem Verband, der Vereinigten Vaterländischen
Verbände und des Frontsoldatenbundes Stahlhelm hatten von hier aus einen politischen
"Generalangriff" gegen die Regierung inszeniert.
5 Von Bad Harzburg aus sollte ein Sturmsignal
ausgehen, dass die zuletzt krisengeplagte verhasste Republik zu Fall gebracht werden sollte und
die Stunde einer Nationalen Regierung unter einem im Amt gestärkten Reichspräsidenten
Hindenburg gekommen sei.
Nun, zwei Tage später, schreibt Ossietzky also über die Ereignisse der letzten Tage:
"Anderthalb Jahre hat der Reichskanzler Brüning sich bemüht, der sogenannten
Nationalen Opposition Manieren beizubringen. Er hat sich sein Erziehungswerk durch
so viele Konzessionen an die Rechte zu erleichtern versucht, daß die arme demo-
kratische Republik dabei in die Brüche gegangen ist. Brünings Idee war: die Rechts-
parteien soweit zu zivilisieren, daß sie außenpolitisch tragbar wurden und innen-
politisch wenigstens noch einen Schein von Legalität wahrten. Damit ist der Reichs-
kanzler gescheitert. In dem braunschweigischen Harzburg tritt alles, was Küche und
Keller an Fascismus, Monarchismus und Nationalismus zu bieten haben, geschlossen
gegen ihn auf."
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Und weiter heißt es:
"... einen Tag vor dem Harzburger Treffen [erscheint] der braune Häuptling des
deutschen Fascismus im Palais des Reichspräsidenten. Ein Ereignis von unerhörter
propagandistischer Wirkung für die Reaktion, auch wenn sich die beiden Herren nur
über das Wetter unterhalten haben. Und als Auftakt für Harzburg wird die Sprache der
Nationalsozialisten so drohend und frech wie seit einem Jahre nicht".
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Ähnliches gelte auch für ihr Verhalten innerhalb der Reihen der Nationalen Opposition, fährt
Ossietzky fort und schildert damit seine vielleicht überraschenden Eindrücke von der Tagung
der Harzburger Front: In Bad Harzburg hätte sich die nationalistische Bewegung auch dann
immer noch als stark erwiesen, obwohl "sie in sich nicht geschlossen" sei und gerade National-
sozialisten und Stahlhelmer sich "gestern, wie Kriemhild und Brunhild, um den Vortritt ge-
stritten" hätten.
Der Journalist von Ossietzky traf im Oktober 1931 mit seinem Artikel "Rechts ist Trumpf"
eine Einschätzung, die heute Anlass sein soll, dieses auf den ersten Blick verwirrende Bild von
einer gefährlichen, zugleich aber auch tief gespaltenen Harzburger "Front" an zu hinterfragen
und zu beleuchten. Im Folgenden soll die Analyse also dem merkwürdigen Verhältnis von
Stahlhelm und NSDAP gelten, das den Beobachter von Ossietzky in seinem Urteil zur Harzburger
Front zu diesem schillernden Vergleich bewog.
8 Dabei wird die Idee leitend sein, dass wir es
rund um die Formierung der Harzburger Front mit einer ebenso komplizierten wie konflikt-
reichen Beziehungsgeschichte zu tun haben, deren Akteure offenbar mitnichten an einem
Strang gezogen haben. Denn, was schon den Zeitgenossen und Beobachtern der Tagung nicht
unverborgen blieb, wird heute für Historikerinnen und Historiker durch den Blick auf die
historischen Quellen offensichtlich: Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten und die National-
sozialisten, das heißt: diejenigen Kräfte, die das Bild von der Harzburger Front am eindrück-
lichsten prägten, lieferten sich in Bad Harzburg tatsächlich einen regelrechten Machtkampf um
die Führungsposition an der Spitze der Nationalen Front. So war Bad Harzburg die wenig
vorteilhafte Bühne für einen nur dürftig kaschierten internen Konkurrenzkampf zwischen Stahl-
helm und NSDAP, die gleichsam als Kriemhild und Brunhild mehr gegen- als miteinander
wirkten.
Diese Beobachtung wird im Folgenden in drei Schritten nachgezeichnet: Zunächst soll es (1)
darum gehen, wie das Projekt der "Harzburger Front" entstand, welche Akteure sich an der
Planung beteiligten und wie die Vorbereitungsarbeiten von statten gingen. In einem zweiten
Schritt stehen (2) insbesondere die Ereignisse des 10. und 11. Oktober 1931 im Mittelpunkt.
Dabei sollen vor allem jene Punkte in der Ereignis-Geschichte der Tagung zentral sein, die Auf-
schluss über das Verhältnis zwischen den vermeintlichen "Waffenbrüdern"
9 Stahlhelm und
NSDAP geben. Wie unter einem Brennglas zeichnen sich hier Konflikte ab, die schließlich bereits
unmittelbar nach der Tagung für erhebliche Missstimmungen unter den vermeintlichen
"Partnern" der so genannten Harzburger Front sorgten und darüber hinaus auch den zeitge-
nössischen Beobachtern aus Politik und Presse nicht verborgen blieben. Eben diesem Nachspiel
von Bad Harzburg gilt im dritten Abschnitt ein näherer Blick (3). Dabei wird einerseits darauf
einzugehen sein, wie die beiden Akteure NSDAP und Stahlhelm in der Folge miteinander
umgingen - worauf im Anschluss schließlich ein kurzer Blick auf jene Darstellungen und Wahr-
nehmungen von außen geworfen werden soll, die auf die Tagung folgten.
Zu rahmen sind diese Schilderungen von zwei Seiten: Zu Beginn wird in aller Kürze vorzu-
stellen sein, in welcher Situation sich die Republik im Jahr 1931 befand. Denn - und darüber be-
steht kein Zweifel: Im Oktober 1931 war die Tagung eine klare Kampfansage gegen eine
schwache parlamentarische Demokratie, die zugleich aber auch durchaus einen Vorgeschmack
darauf bot, welchen Wirkungsgrad die Nationale Opposition, allen voran die NSDAP, gegen die
angeschlagene Republik zu entfalten begann. In diesem Zusammenhang ist es darüber hinaus
notwendig, auch auf den "Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten" einzugehen und einen knappen
Blick auf die Geschichte, die Ziele und Entwicklungen dieses Veteranenverbandes zu werfen.
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Am Ende wird ein Ausblick darauf zu geben sein, welche längerfristigen Konsequenzen die
Tagung mitsamt oder gerade wegen all ihrer internen Brüche zeitigte. Welche Entwicklungen
nahm der Stahlhelm, und welche Schritte folgten für die NSDAP auf die Tagung der Harzburger
Front? Und schließlich: Was bedeutete es für das politische Klima in der Republik und für das
Land Braunschweig, das als Schauplatz dieses Generalangriffs auf die angeschlagene Republik
eine wichtige Rolle für die weitere Entwicklung spielte?
Weimar 1931: Die Krise der Republik
In welcher Situation befand sich die Republik im Herbst 1931 und welche Angriffsmöglichkeiten
ergaben sich hier etwa für eine vermeintliche Phalanx der rechts-konservativen bis radikal
rechten Republikgegner, die parlamentarische Demokratie von Weimar zu Beginn der 1930er
Jahre in eine "gefährliche Sturmzone"
11 zu stellen?
Das Parlament in Berlin sollte am 13. Oktober nach über sechsmonatiger Pause wieder zu-
sammenkommen. Noch kurz vor der Tagung war es Brüning durch die Umbildung seines
Kabinetts gelungen, die außen- wie innenpolitische Krise abzufedern, die von internationalen
Zerwürfnissen über eine mögliche Zollunion mit Österreich und einer völlig desolaten - für viele
Bürgerinnen und Bürger im Alltag existenzbedrohenden - Wirtschaftslage im Reich geprägt
war.
12 Doch die NSDAP, die seit ihrem "Erdrutschsieg" bei den Reichstagswahlen vom
14. September 1930 mit 107 Abgeordneten jede Entscheidung im Reichstag boykottierte und
auch in den folgenden Wahlen der Länderparlamente immer wieder horrende Zugewinne
machte, war zu diesem Zeitpunkt zu einer realen Bedrohung der parlamentarischen Demokratie
angewachsen.
13 Vor diesem Hintergrund war die Harzburger Tagung keinesfalls als bloßes
Muskelspiel zu werten. Vielmehr war die Zusammenkunft der Harzburger Front tatsächlich dazu
angetan, mit ihrer Forderung nach Beseitigung der republikanischen Ordnung und der Ab-
setzung ihrer Funktionsträger vitale Ängste vor einem Umsturz durch die nationalistischen
Kräfte zu schüren. Zu diesem Zweck schloss die am Abend des 11. Oktober 1931 verab-
schiedete, gemeinsame Entschließung der Nationalen Opposition auch die Möglichkeit einer
gewalthaften Machtübernahme nicht ausdrücklich aus. Die paramilitärischen Einheiten von SA,
SS und "Stahlhelm", deren Mitglieder zu Tausenden nach Bad Harzburg gereist waren, unter-
strichen das Bedrohungszenario von Militanz und Gewaltbereitschaft. Das Fortbestehen der
Weimarer Republik sollte im Herbst 1931 also kaum als gesichert gelten können.
Der "Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten" als gleichberechtigter "Waffenbruder" in der
Harzburger Front?
Als Teil der Nationalen Opposition hatte sich der Veteranenverband "Stahlhelm. Bund der
Frontsoldaten" seit seiner Gründung im Winter 1918/19 massiv als antirepublikanische Stör-
kraft engagiert. Bis Mitte der 1920er Jahre war er unter der Doppelführung von Franz Seldte,
dem späteren Arbeitsminister im Kabinett Hitler, und Oberstleutnant a. D. Theodor Duester-
berg, zur mitgliederstärksten, paramilitärisch organisierten Frontkämpfervereinigung des
rechten Spektrums angewachsen. Mit Ausnahme des süddeutschen Raumes waren seine
Ortsgruppen im gesamten Reichsgebiet, in Stadt und Land, vertreten. Nach eigenen Angaben
hatten Ende der 1920er Jahre etwa 500.000 Männer, in überwiegender Zahl Frontsoldaten des
Ersten Weltkrieges, ein Mitgliedsbuch des Stahlhelm in der Tasche.
Hauptpunkte seiner politischen Zielsetzungen waren unter anderem: die Revision des
Versailler Vertrages, der Kampf gegen Kommunisten und Sozialisten, die von alliierter Kontrolle
unabhängige Wiederwehrbarmachung der deutschen Streitkräfte und der Aufbau eines von
militärischen Strukturen geprägten, organischen Staates jenseits aller demokratischen Prin-
zipien von repräsentativer Volksvertretung und Gewaltenteilung. Ab Mitte der 1920er Jahre
drängte der Stahlhelm zunehmend auch in (partei-)politische Aktionsfelder hinein, engagierte
sich in der Regel an der Seite der Deutschnationalen Volkspartei, zunehmend aber auch in Zu-
sammenarbeit mit der aufstrebenden NSDAP: gegen die "Kriegsschuldlüge" und ihre öko-
nomischen Konsequenzen der Reparationsabkommen mit den Alliierten, gegen den Weimarer
Parlamentarismus und gegen demokratische Volksvertretungsordnungen. Mit der Krise der
Weimarer Republik, die die beginnenden 1930er Jahre prägte und deren Ursachen von vielen
Zeitgenossen in direkter Verbindung mit dem "Schandfrieden" von Versailles, mit "Dolchstoß",
Revolution, Räterepublik und Parlamentarismus gesehen wurden, veränderten sich jedoch die
Machtkonstellationen am rechten Rand: Mit wachsendem Alleinanspruch besetzten die
Nationalsozialisten das politische Feld mit eben diesen Themen, die bis dahin auch zur Kern-
programmatik des Stahlhelm gehört hatten. Im Verbund mit der zunehmenden Präsenz der SA,
die die Straße als politisches Kampffeld in Stadt und Land eroberte und den 'traditionellen'
Soldatenbund rasch als bürgerlich elitären Verein reaktionärer und überalterter Kameraden er-
scheinen ließ, geriet der Stahlhelm ab Ende der 1920er Jahre aber immer deutlicher in den
Schlagschatten der NS-Bewegung.
14 Eine wachsende Zahl von Stahlhelm-Mitgliedern entschloss
sich, dem Frontsoldatenbund den Rücken zu kehren und sich der NSDAP und ihren Organisa-
tionen anzuschließen. In Bad Harzburg wurde diese Konkurrenz nur allzu offenkundig.
1. Schwierige Vorbereitungen
Als am 7. April 1931 auf dem Hugenbergschen Gut Rohbraken im Extertal der DNVP-Vorsitzende
Hugenberg, sein Mitarbeiter Otto Schmidt und die Stahlhelm-Bundesführer Franz Seldte und
Theodor Duesterberg in Begleitung des Stahlhelm-Bundeskanzlers Siegfried Wagner zusammen-
saßen, um die aktuelle Lage der Nationalen Opposition zu erörtern und deren nächste Schritte
bis zur Wiedereinberufung des Reichstages zu besprechen, war das "Dreiecksverhältnis DNVP-
Stahlhelm-NSDAP"
15 bereits empfindlich gestört.
Schon seit der vom Stahlhelm initiierten Young-Kampagne, bei der auch die NSDAP - zu-
nächst widerstrebend, dann zunehmend selbstbewusst- mitgewirkt hatte, hatte sich die
Atmosphäre zwischen den drei vermeintlichen "Partnern" bereits merklich verdüstert. Und
auch die nun beginnenden Vorbereitungen zur Harzburger Tagung standen unter keinem guten
Stern. Denn Hitler hatte - zum wiederholten Male - auch an diesem 7. April der Einladung zum
Gespräch eine Absage erteilt. Der an seiner statt verbindlich erwartete Wilhelm Frick erschien
ebenfalls nicht. So war es wenig verwunderlich, wenn Otto Schmidt protokollierte, dass es zu
Beginn der Besprechung zunächst ganz um die "[s]tarken Mißstimmungen [...] bei den Stahl-
helm-Führern gegen die Führung der NSDAP"
16 gegangen sei und sich die Anwesenden lautstark
Luft gemacht hätten. Zuletzt wurden die Herren dann aber doch konstruktiv, wenn sie planten,
eine "Kundgebung der gesamten nationalen Opposition etwa acht Tage vor Zusammentritt des
Reichstags"
17 zu veranstalten. Das Vorhaben, auf diese Weise mit einem öffentlichkeits-wirk-
samen Aufgebot der nationalen Kräfte der Republik entgegenzutreten wurde also ohne Hitler
aus der Taufe gehoben: ein Umstand, der für die weitere Entwicklung der Harzburger Front
wenig Gutes verhieß.
Über die Sommermonate hinweg ruhten die Vorbereitungen. Ein erneutes Planungstreffen
fand erst am 31. August 1931 statt, diesmal im Oberbayerischen Kreuth, wo Hugenberg,
Schmidt und Seldte in kleiner Runde zusammenkamen - und: diesmal war auch Hitler an-
wesend. Auch dieses Gespräch, bei dem die Herren von DNVP und Stahlhelm Hitler zunächst
das Versprechen abrangen, im kommenden Jahr auf gar keinen Fall für das Amt des Reichs-
präsidenten zu kandidieren - ein Versprechen, dass er bekanntlich nicht halten würde - verlief
gleichsam unangenehm, die Stimmung war gereizt. Um die weiteren Planungen nicht zu ge-
fährden, einigte man sich darauf, sie in die Hände eines Planungsausschusses zu legen. - In dem
so bezeichneten "Arbeitsausschuß der nationalen Opposition" sollten Wilhelm Frick und Gregor
Strasser von Seiten der NSDAP, Otto Schmidt für die DNVP und der Stahlhelm-Bundes-kanzler
Siegfried Wagner die organisatorischen Aufgaben übernehmen.
Das Zusammenkommen der Nationalen Opposition nahm allerdings nur langsam Gestalt an
und erst am 2. Oktober 1931 informierte etwa die "Frankfurter Zeitung" nach eigenem Draht-
bericht als erste, dass die Tagung tatsächlich stattfinden würde - nun, da jetzt "auch eine Zu-
stimmungserklärung der Nationalsozialisten"
18 vorläge. Die Wahl des Austragungsortes war aus
bekannten Gründen auf den Kurort Bad Harzburg im Land Braunschweig gefallen.
19
Als der "Arbeitsausschuss" am Nachmittag des 8. Oktober zu seiner letzten Besprechung im
Nationalen Club in Berlin zusammentraf, waren beinahe alle Details und Eventualitäten im
Ablauf- und Organisationsplan für das bevorstehende Wochenende bedacht und festgelegt: von
der Besetzung der Quartierbüros am Harzburger Bahnhof, über die Aufstellung der einzelnen
Formationen und Abordnungen der Parteien und Verbände zum Feldgottesdienst unter freiem
Himmel oder bei schlechtem Wetter, von der Bestellung von Rauchverbotsschildern in den Saal
des Kurhauses bis hin zur Festlegung der Sitzordnung auf der Sprecherbühne für die feierliche
Abschluss-Versammlung waren sowohl Kleinigkeiten als auch die wichtigsten Abläufe auf das
Beste vorbereitet.
20 Indes, aus dem erklärten Ziel, im "gemeinsame[n] Vorgehen" in Bad Harz-
burg durch die konzertierte Machtdemonstration zu beweisen, dass die "nationale Opposition
[...] in allen großen Fragen völlig einig ist"
21 - wie die Presseabteilung des Stahlhelm noch am
Samstag, den 10. Oktober ausführte, sollte nichts werden. Stattdessen standen die Spitzen-
vertreter von Stahlhelm und DNVP drei Tage später, nach der Tagung, am Abend des
11. Oktober vor einem sprichwörtlichen Scherbenhaufen. Die angeblich "[g]eschlossene Natio-
nale Front"
22 war unter den Missstimmungen und gegenseitigen Provokationen der ver-
gangenen Stunden vor aller Augen zusammengebrochen.
Stahlhelm und NSDAP am 10. und 11. Oktober 1931
So minutiös der Ablauf der Tagung auch geplant war, so rasch kündigte sich bereits am Vor-
abend der eigentlichen Tagung an, dass sich die Ereignisse der kommenden Stunden weniger
zur Machtdemonstration eines geeinten Blockes denn als eigentliche Zerreißprobe der
Nationalen Opposition entwickeln würden. Bereits einige wenige Punkte aus dem gesamten
Spektrum von Zwischenfällen, Provokationen und Affronts machen deutlich, dass der Stahlhelm
in den Augen der Nationalsozialisten - oder genauer: in den Augen Hitlers - wenn er es über-
haupt jemals gewesen war, schon lange nicht mehr die Rolle des "Partners auf Augenhöhe"
spielte.
Das betrifft zunächst einmal die gemeinsame Entschließung, mit deren Verkündung am Nach-
mittag des 11. Oktober die Tagung ihren abschließenden Höhepunkt finden sollte. Denn wenn
sie auch mit den Worten anhob, dass die "Nationale Front" "in ihren Parteien, Bünden und
Gruppen" einig und "von dem Willen beseelt"
sei, gemeinsam und geschlossen zu handeln",
war es doch bereits bei der vorbereitenden Ar-
beit an dem Entschließungstext zu einer erster
Nagelprobe der Verbindlichkeiten zwischen
Stahlhelm und NSDAP gekommen.
Bis zum 3. Oktober hatte vor allem Siegfried
Wagner für den Stahlhelm - zunächst in Ab-
stimmung mit Otto Schmidt für die DNVP und
Gregor Strasser für die NSDAP an den Ent-
würfen für die Entschließung gearbeitet.
Abbildung 1: Entschließung der Nationalen Opposition
(Harzburger Zeitung, 11.10.1931)
Doch
weder die von ihm allein und dem zweiten
Stahlhelm-Bundesführer Theodor Duesterberg
verfasste Erstfassung noch seine Änderungs-
wünsche für einen späteren gemeinsamen
Entwurf fanden bei den Nationalsozialisten Gehör. Stein des Anstoßes war eine Passage der
Entschließung, die für den als wahrscheinlich markierten Fall, dass es zu Unruhen kommen
würde, auch die Möglichkeit gewalthafter Auseinandersetzungen nicht ausdrücklich ausschloss.
In der am 11. Oktober verlesenen Entschließung hieß es hier:
"Im vollen Bewußtsein der damit übernommenen Verantwortung erklären wir, daß die
in der nationalen Opposition stehenden Verbände bei kommenden Unruhen wohl
Leben und Eigentum, Haus, Hof und Arbeitsstelle derjenigen verteidigen werden, die
sich mit uns offen zur Nation bekennen, daß wir es aber ablehnen, die heutige Re-
gierung und das heute stehende System mit dem Einsatz unsere Blutes zu schützen."
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Stattdessen fand sich hier also eine Formulierung, die durch die Hintertür ein Bürgerkriegs-
Schreckbild als Drohszenario gegen all jene formulierte, die sich nicht "offen zur Nation" be-
kannten und die auf Seiten der "heutigen Regierung" und des "heute herrschenden Systems"
blieben.
Die Stahlhelmführung lehnte diese Formulierung ab. Stahlhelm-Bundeskanzler Wagner hatte
sie ersatzlos gestrichen, die DNVP war mit dieser bereinigten Version einverstanden. Allein,
schrieb Wagner am 3. Oktober an die Bundesführung - Hitlers Zustimmung stünde noch aus.
Bliebe der Wortlaut inklusive der "kommenden Unruhen" allerdings bestehen, sei dieser Ent-
wurf der Entschließung aus Sicht des Stahlhelm vollständig "unannehmbar": "An diesem Stand-
punkt," schloss Wagner seinen Bericht, "hält der Stahlhelm unbedingt fest."
24 Eine Einigung
über den Entschließungstext sollte eigentlich eine gemeinsame Besprechung in Bad Harzburg
bringen, die für den Abend des 10. Oktober geplant war. Doch: Hitler kam nicht - war er doch
zu diesem Zeitpunkt noch in Berlin, wo er im Reichspräsidentenpalais um die Gunst des greisen
Hindenburg buhlte. Die Vertreter von DNVP und Stahlhelm warteten bis weit nach 22 Uhr ver-
geblich auf den "Führer" der NSDAP. Am Ende - wie im Abdruck des Verlautbarungstextes in
der Harzburger Zeitung zu sehen - blieb der "unannehmbare" Satz in der Entschließung stehen.
Der Stahlhelm hatte diesen Zug verloren.
Getoppt wurde diese inhaltliche Niederlage schließlich noch durch die Überraschung, dass
Hitler noch nach der Verlesung der Entschließung, seinerseits ein eigenes Manifest verlas -
ausschließlich adressiert an seine "Nationalsozialisten! Parteigenossen und Parteige-
nossinnen!"
25 An dessen Wortlaut hatte er noch am Vormittag des 11. Oktober in seinem Bad
Harzburger Hotelzimmer zusammen mit Goebbels gefeilt, war dafür weder zum Feldgottes-
dienst noch zum gemeinsamen Mittagessen erschienen und weigerte sich dann auch noch zu-
nächst, überhaupt als Redner zur gemeinsamen Abschluss-Sitzung im Kurhaussaal zu erschein-
en.
26 Und mit seinem Manifest, dessen Existenz alle Anwesenden Nicht-Nationalsozialisten
überraschte, behielt er dann sogar aber auch noch das letzte Wort der Tagung: "Es lebe unsere
herrliche nationalsozialistische Bewegung! Es lebe Deutschland!"
27, schloss Hitler - eine
provokante Geste, die allen anderen Anwesenden, den nicht-Nationalsozialisten, klar machen
musste, dass Hitler auf sie keinen Wert legte.
Ein ähnliches Signal hatte er bereits am Vormittag gesetzt, als er wie erwähnt bei Feldgottes-
dienst und Mittagessen durch Abwesenheit glänzte. Doch die bei weitem sichtbarste Geste der
Missachtung ereignete sich während der nachmittäglichen Parade und wurde schon in den zeit-
genössischen Berichterstattungen und politischen Einschätzungen zur Tagung rasch zum Synonym
dafür, das von der "Einheit der Nationalen Opposition" keine Rede sein konnte.
Die Formationen hatten sich
bereits in Marsch gesetzt, als
Hitler - wiederum zu spät -
im offenen PKW stehend, an
die Parade herangefahren
wurde,
die
'seiner' SA und SS abnahm
und - noch ehe die Reihen
der Stahlhelm-Züge vorbei-
marschierten,
helm-Formationen den militärischen Gruß demonstrativ verweigernd - wieder verschwand.
Stahlhelm und DNVP hatten indes ordnungsgemäß Spaliergestanden, als die SA-Mannschaften
zuvor ihre Route durch die Harzburger Straßen gezogen hatten.
Im Laufe des Nachmittags kam es, wenig überraschend, sogar noch zu gewalttätigen Ausein-
andersetzungen zwischen Stahlhelm-Mitgliedern und SA-Männern. Auslöser war ein Streit über
die Beflaggung des Kurhausdaches. Beide Seiten versuchten, die Fahnen der jeweils anderen zu
entfernen. Bei der folgenden Schlägerei behielten die Stahlhelm-Männer die Oberhand.28
Dieses 'Intermezzo' konnte aber nichts mehr ändern: Das Bild der in Bad Harzburg ge-
demütigten Stahlhelmer hatte sich - für alle weithin sichtbar - eingeprägt. Sogar die
ausländische Presse berichtete von dem "Fiasco at Harzburg"
29, wo sich Hitler allein habe als
Diktator inszenieren wollen und als "German Duce"
30 aufgetreten sei.
Abbildung 2: Hitler bei der Parade
Nachspiel: Zum Verhältnis von Stahlhelm und NSDAP nach der Tagung
Dabei sollte es auch in den kommenden Wochen und Monaten bleiben, auch wenn die Führung
des Stahlhelm die Ereignisse nicht auf sich sitzen lassen wollte. In den folgenden Wochen kam
es zu einem erbitterten Briefwechsel zwischen den Stahlhelm-Vorsitzenden und führenden
Funktionären der NSDAP - in den sich schließlich auch Hitler einschaltete. Der Stahlhelm warf
ihm sein Verhalten in Bad Harzburg vor, missbilligte, dass er die Parade der Stahlhelm-Forma-
tionen nicht abgenommen hatte und sprach von der Missachtung, die Hitler der ganzen Veran-
staltung und seinen "Partnern" hatte entgegenschlagen lassen, als er nicht zum gemeinsamen
Mittagessen erschienen war. Man habe dies alles, schrieben Duesterberg und Seldte am
23. November 1931 an den "Sehr geehrten Herrn Hitler", "bereits in Bad Harzburg als eine
schwere Kränkung und einen Verstoß gegen beste deutsche soldatische Auffassung em-
pfunden"
31. Hitler habe sich umgehend und öffentlich zu entschuldigen.
In seinem Antwortbrief vom 1. Dezember zeigte sich dieser aber erstaunt und wies jede Ver-
antwortung von sich. Er habe nicht einmal gewusst, dass auch die Stahlhelmer marschieren
würden, und ganz abgesehen davon hätte er ohnehin nicht am Vorbeimarsch der Stahlhelm-
Einheiten teilgenommen, da er "grundsätzlich niemals den Vorbeimarsch von Verbänden" ab-
nehme, "wenn diese nicht mir bzw. meiner Partei unterstellt sind [...]."
32 Zuletzt setzte Hitler in
seinem Schreiben sogar zum Gegenangriff an, als er auf den Harzburger Tagesordnungspunkt
des gemeinsamen Mittagessens zu sprechen kam. Solcherlei "sog. gemeinsamen Essen" lehne
er prinzipiell ab, da er als "Führer der in der SA versammelten Arbeiter nicht an einer Tafel Platz
nehme, "wenn tausende meiner Anhänger unter sehr großen Opfern [...] Dienst tun."
33
Als Entschuldigung war dies alles wohl kaum zu werten, und als eine solche auch weiterhin
trotz mehrfachen Drängens ausblieb, entschloss sich die Stahlhelm-Bundesführung im
Dezember 1931, den gesamten Briefwechsel, flankiert von einer geharnischten Kommen-
tierung, zu veröffentlichen. Hier heißt es: Die in Bad Harzburg "zutage getretene innere Gegen-
sätzlichkeit hat den poltischen Wert der Harzburger Tagung gemindert und die nationale Um-
wandlung der Reichsregierung weiter verzögert. Mit Bedauern stellt der Stahlhelm fest, daß
nach der Harzburger Tagung in verstärktem Maße in der nationalsozialistischen Presse, aber
auch aus dem Munde der Führer unverantwortliche Angriffe gegen den Stahlhelm öffentlich er-
folgten. Allen diesen Angriffen gegenüber hat der Stahlhelm geschwiegen, bis endlich auch von
der oberen Führung der nationalsozialistischen Partei der Wille, den Stahlhelm beiseite zu
schieben, wenn nicht zu vernichten, deutlich verkündet wurde."
34 Dem wolle der Stahlhelm
nicht zuletzt mit der Enthüllung des Briefwechsels entschieden entgegentreten. Und so endete
die Veröffentlichung mit den Worten:
"In Deutschlands Interesse stehen wir zu unserem in Harzburg gegeben Wort. Wir sind
wie während und nach dem Kriege bereit und entschlossen, der deutschen Nation als
Männer und Stahlhelmer zu dienen, nicht aber Führern anderer Organisationen."
35
In den Reaktionen der Presse, die das in Bad Harzburg öffentlich aufgeflammte Konkurrenz-
verhältnis auch weiterhin kritisch beobachtete, hinterließen die vermeintlichen Enthüllungen,
nun, da die Stahlhelm-Führung mit der Veröffentlichung zwei Monate nach der Tagung ihren
eigenen Stellenwert zu verteidigen suchte, kaum mehr als amüsiertes Staunen.
In der Auseinandersetzung der "zankenden
Führer" konnte sich der Stahlhelm in seiner
Position gegenüber Hitler und der NSDAP jeden-
falls nicht von dem Eindruck freimachen,
während und nach der Tagung als hoffnungslos
Unterlegene den Launen des Partei-Führers aus-
gesetzt gewesen zu sein. Im Gegenteil: die ver-
zögerte
Gegenwehr der Stahlhelmführung
wirkte wie eine Posse im Blätterwald.
Abbildung 3: "Die zankenden Führer"
(Berliner Tageblatt, 30. Januar 1932))
Fazit: Konsequenzen
Doch welche Tragweite hatten die hier in aller Kürze geschilderten Ereignisse von Bad Harzburg
- für den Stahlhelm, wie für den Nationalsozialismus?
Bad Harzburg war - so viel lässt sich für den Stahlhelm sagen: ein Fiasko! Auf die Tagung
folgte für den Frontsoldatenbund nur ein einziger weiterer großer "Auftritt", den der Historiker
Volker Berghahn als einen letzten Schritt des Frontsoldatenbundes als politischer Akteur, als
einen "Sprung in die Niederlage" bezeichnet hat: die Kandidatur des Zweiten Bundesführers
Theodor Duesterberg für das Amt des Reichspräsidenten im Frühjahr 1932 - eine Wahl, zu der
sich Hitler ja noch im August ausdrücklich nicht hatte aufstellen lassen wollen!
Vergessen war Bad Harzburg indes noch lange nicht und der rote Faden zwischen dem im
Oktober 1931 zur offenkundigen Tatsache gewordenen "Bruderkampf" und der nun ganz
konkret gewordenen Wahlkampf-Konkurrenz zwischen Stahlhelm und NSDAP war nicht nur für
die politische Karikatur relevant. So ließ es sich der "Vorwärts" nicht nehmen, am 28. Februar
1932 eine Karikatur zu veröffentlichen, in der die Leserinnen und Leser zwei jeweils in
Stahlhelm- bzw. SA-Uniform gekleidete Männer einen Dialog führen sahen, an dessen Anfang
sie sich zunächst versprachen, einander gegenseitig zu wählen - um am Ende der Bilderge-
schichte beide Figuren einander über derben Beschimpfungen bespucken zu sehen. Und die
"Berliner Montagspost" aus dem Hause Ullstein machte mit ihrer Zeichnung zum "Sechs-
Wochen-Rennen der Harzburger Präsidentschaftskandidaten" plastisch, welchen Eindruck das
Wettrennen zur Vormachtstellung an der Spitze der sogenannten Nationalen Opposition
machte: in einem grotesken Fahrradrennen eiferten Hugenberg, Hitler, und Seldte um die
vorderen Plätze, Goebbels und Röhm trieben den Rennfahrer Hitler an, Frick saß abgeschlagen
am Rande des Velodroms und hinter der Bande jubelten die Claqueure von Adel und Kapital.36
Innerhalb des Stahlhelm löste die Niederlage von Bad Harzburg dann auch eine regelrechte
Abwanderung von Mitgliedern aus, die die um so vieles "erfolgreicher" anmutende Macht-
demonstration der NSDAP zum Anlass nahmen, ihre Sympathiewerte zu prüfen, oder gleich die
Seiten zu wechseln. Die Nationalsozialisten taten ihrerseits alles, um ihre Außenwirkung auch
und gerade nach der Tagung zu potenzieren. "Von Harzburg nach Braunschweig"
37, überschrieb
etwa Goebbels einen seiner berühmten Leitartikel. Hier kündigte er den für den 18. Oktober
1931 in Braunschweig geplanten Großaufmarsch der NSDAP an. Die Überschrift kam nicht von
ungefähr - galt es doch den Nationalsozialisten, sich nach der Harzburger Front von den
Reaktionären von Stahlhelm und DNVP noch einmal deutlicher zu distanzieren. Die Idee da-
hinter war eindeutig und Goebbels brachte sie bereits einen Tag nach der Harzburger Tagung in
seinem Tagebuch auf den Punkt: Wenn die Republik falle, gelte es, möglichst schnell die
Reaktion "auszubooten" - Goebbels schrieb: "Wir wollen allein die Herren von Deutschland
sein."
38
Davon abgesehen war der Braunschweiger Aufmarsch von allein über 100.000 SA-Männern
auch in anderer Hinsicht ein Türöffner, wenn es darum ging, vor ganz großem Publikum die Ge-
walt gegen all jene, die sich dem Nazi-Terror noch entgegenzustellen wagten, auf die Straße zu
bringen. Tote und Verletzte, Sozialdemokraten und Kommunisten, blieben am Sonntag den 18.
Oktober in Braunschweig zurück, als der braune Mob die Stadt wieder verließ. Ein Raunen ging
durch die Republik - Konsequenzen für die Mörder folgten nicht. Und nur eineinhalb Jahre
später, im März 1933 kehrte die Gewalt, wenn sie überhaupt jemals abgeebbt war, um ein
vielfaches verschärft nach Braunschweig zurück, als den Herrschafts-Ansprüchen der National-
sozialisten nach der Machtübernahme keinerlei Zügel mehr angelegt wurden - im Braun-
schweiger Volksfreundehaus wurden Sozialdemokraten festgesetzt, sie wurden erniedrigt, ge-
foltert und gequält.
39 Und auch der Stahlhelm, wenn auch mit diesen Gräueln kaum zu ver-
gleichen, wurde in Braunschweig erneut zur Zielscheibe der Nationalsozialisten. Sie bezichtigten
die ehemaligen "Waffenbrüder" der Kollaboration mit Kommunisten, unterstellten dem Front-
soldatenbund einen Putsch-Versuch und verhafteten seine lokalen Führer
40 - darunter auch
den Stahlhelm-Landesführer Werner Schrader, der heute von der Berliner Gedenkstätte
Deutscher Widerstand als Gegner des Nationalsozialismus gewürdigt wird.
"Rechts ist Trumpf" - nannte Ossietzky seinen Weltbühne-Beitrag zur Kommentierung der
Harzburger Front. Frech seien die Nazis, so frech, wie noch nie. Und selbst wenn die eigentlich
Verbündeten, die in Bad Harzburg aufmarschierten, untereinander nicht eins seien: für
Ossietzky - und nicht nur für ihn - setzte Bad Harzburg ein Zeichen, dass die Attraktivität aber
auch das Gewaltpotential der nationalistischen Bewegung nicht zu unterschätzen sei.
So wird am Ende deutlich, wie sehr die Machtprobe in der Harzburger Front dazu beitrug, den
Aufstieg der Nationalsozialisten noch zusätzlich anzuschieben. Vor diesem Hintergrund liegt die
Bedeutung von "Bad Harzburg" nicht so sehr im Einfluss, den die Tagung auf die unmittelbare
Situation der parlamentarischen Republik entwickelte bzw. gerade nicht zeitigte. Viel stärker ist
die "Harzburger Front" als Katalysator der Anziehungskraft zu sehen, mit der die
Nationalsozialisten ihre vermeintlichen "Waffenbrüder" aus den Verbänden und Parteien
herauslösen konnten, die in ihrem Charakter und ihrer Programmatik dem politischen Soldaten-
tum von NSDAP, SA oder SS eigentlich ja nicht unähnlich waren. Insofern öffnet der Blick auf die
Beziehungsgeschichte zwischen Stahlhelm und NSDAP, für die sich in Bad Harzburg ein ganz
besonders spektakuläres Kapitel aufblätterte, Antworten zum Aufstieg der NSDAP, die es kaum
1 % Jahre nach der Tagung der Nationalen Opposition in Bad Harzburg nicht mehr nötig hatte,
auch nur einen der ehemaligen vermeintlichen "Partner" partizipieren zu lassen, als sie im
Januar 1933 die Macht übernahm.
Anke Hoffstadt - Im Gleichschritt zur Diktatur?
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1: Die Hauptresolution der Harzburger Tagung, aus: Spurensuche Harzregion e. V. (Hg.), Harzburger Front. Im
Gleichschritt zur Diktatur, Clausthal-Zellerfeld 2009, S. 18.
Abb. 2: Hitler während der Parade, aus: Spurensuche Goslar e. V. (Hg.), Harzburger Front von 1931 - Fanal zur
Zerstörung einer demokratischen Republik. Historisches Ereignis und Erinnern in der Gegenwart. Eine
Dokumentation, S. 54.
Abb. 3: "Die zankenden Führer", in: Berliner Tageblatt (30.1.1932).
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- Der hier vorliegende Text folgt dem Manuskript eines Vortrages, den die Autorin am 3. Mai 2012 im Rahmen
der Präsentation der Ausstellung "Im Gleichschritt zur Diktatur. Harzburger Front von 1931" im Kreishaus
Goslar gehalten hat. Zur Ausstellung, die zuerst am 20. Februar 2009 in der Wandelhalle im Badepark von Bad
Harzburg eröffnet wurde, vgl. den Katalog Spurensuche Harzregion e. V. (Hg.): Harzburger Front. Im
Gleichschritt zur Diktatur, Clausthal-Zellerfeld 2009. Die Autorin dankt Peter Schyga (Hannover) und Markus
Weber (Wolfenbüttel) für die Einladung zu Vortrag und Diskussion.
- Vgl. unter vielen anderen allgemeineren Darstellungen, z. B. weiterhin Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung
der Weimarer Republik. Studien zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Nachdruck der 5. Auflage
4
- (1971), Düsseldorf 1985, S. 367-374; Heinrich August Winkler, Weimar 1918-1933, München 2005, S. 429-
433, etwa Herbert Hömig, Brüning. Kanzler in der Krise. Eine Weimarer Biographie, Paderborn u. a. 2000,
S. 404-428.
- Carl von Ossietzky, Rechts ist Trumpf!, in: Die Weltbühne, XXVII. Jg., Nummer 41 (13.10.1931), S. S. 541-544.
Vgl. Wolfgang Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 636 ff. Die
Frankfurter Zeitung berichtete am 11.10.1931, dass die Audienz von zahlreichen "Schaulustige[n]", in "der
Hauptsache jugendliche Anhänger des Nationalsozialismus" begleitet worden sei, die auf der Wilhelmstraße
Heilrufe skandiert hätten, vgl. Frankfurter Zeitung, 76. Jg., Nr. 756, S. 1, sowie ebd., Nr. 757/58,
Abendblatt/Erstes Morgenblatt, S. 1 f.
- Vgl. als kurzen Überblick zuletzt Volker Ullrich, Das Signal zum Angriff, in: Die Zeit (06.10.2011) sowie immer
noch: Bracher, Auflösung (wie Anm. 2), S. 360-367.
- Carl von Ossietzky: Rechts ist Trumpf! (wie Anm. 3), S. 541 f.
- Ebenda.
- Vgl. hierzu z. B. Larry Eugene Jones, Nationalists, Nazis, and the Assault against Weimar: Revisiting the Harz-
burg Rally of October 1931, in: German Studies Review, Vol. 29 (2006), Nr. 3, S. 483-494.
- Bruce Campbell: The SA generals and the rise of Nazism, Lexington 2004, S. 123.
- Zur Organisationsgeschichte des "Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten" vgl. z. B. Bernhard Mahlke, Stahlhelm.
Bund der Frontsoldaten 1918-1935, in: Dieter Fricke u. a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Band 4, S. 145-158;
Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm Bund der Frontsoldaten 1918-1935, Düsseldorf 1966 sowie aktuell auch
Anke Hoffstadt, Stahlhelm, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Band 5: Organisationen,
Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012 [im Erscheinen].
- Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 1993Kolb, S. 132.
- Vgl. Winkler, Weimer 1918-1933 (wie Anm. 2), S. 414-429; Hömig, Brüning (wie Anm. 2), S. 258-313.
- Vgl. u. a. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. Main
1987, insbesondere S. 218-260.
- Vgl. Anke Hoffstadt, Frontgemeinschaft? Der "Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten" und der
Nationalsozialismus, in: Gerd Krumeich in Verbindung mit Anke Hoffstadt und Arndt Weinrich (Hg.),
- Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 191-206.
- Maximilian Terhalle, Deutschnational in Weimar. Die politische Biographie des Reichstagsabgeordneten Otto
Schmidt(-Hannover), 1888-1971, Köln u. a. 2009, S. 268.
- Aktennotiz Schmidts an Hugenberg (ca. 8.4.1931), zit. in: Terhalle, Deutschnational (wie Anm. 15), S. 268 f.
Ebenda.
- Frankfurter Zeitung, 76. Jg., Nr. 737 (2.10.1931), S. 3 [Hervorhebung im Original].
- Vgl. Ernst August Roloff, Bürgertum und Nationalsozialismus 1930-1933. Braunschweigs Weg ins Dritte Reich,
Hamburg 1961, S. 63 ff.
- Vgl. Schreiben des Hauptgeschäftsführers der DNVP, Dr. Max Weiß, an das Stahlhelm-Bundesamt (Wagner)
vom 8.10.1931, BArch Berlin, R 72/282, Bl. 174-177.
- "Bericht" der Pressestelle des Stahlhelm-Bundesamtes vom [10.]10.1931, BArch Berlin R 72/282, Bl. 167 f.,
hier Bl. 167.
- Der Stahlhelm, 13. Jg., Nr. 41 (11.10.1931), 1. Beilage: Die Bewegung, S. 5.
- Zit. z. B. in: Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1975, S. 146 f.
(Dok. 78).
- Wagner an Seldte und Duesterberg (3.10.1931), BArch Berlin R 72/282, Bl. 188 f., hier Bl. 188.
- Völkischer Beobachter (Reichsausgabe), 44. Jg., Nr. 286 (13.10.1931), S. 1.
- Folgt man dem Tagebucheintrag Joseph Goebbels' vom 12. Oktober 1931 (Die Tagebücher, Teil I, Bd. 2/II
(12.10.1931), S. 121 f.
- Völkischer Beobachter (Reichsausgabe), 44. Jg., Nr. 286 (13.10.1931), S. 1.
- Vgl. Terhalle, Deutschnational (wie Anm. 15), S. 283-288.
- "A Fiasco at Harzburg", in: The Manchester Guardian (12.10.1931), S. 4.
- "Hitler offers to be dictator", Los Angeles Times (12.10.1931), S. 3; "Hitler makes bid to assume role of
German Duce", in: The Atlanta Constitution (12.10.1931).
- Seldte und Duesterberg an Hitler (23.11.1931), zitiert nach Theodor Duesterberg, Der Stahlhelm und Hitler,
2 Hameln 1950, S. 22 f, hier S. 23. Der in dieser selbst-legitimierenden, autobiographischen Exkulpationsschrift
des Zweiten Bundesführers abgedruckte Brief-Wortlaut ist identisch mit der zum Jahreswechsel 1931 von der
Stahlhelm-Bundesführung veröffentlichten Fassung (siehe Anm. 34). Das Original des Briefes ließ sich in
Überlieferung bisher nicht ermitteln.
- Hitler an Seldte (1.12.931), zitiert nach Duesterberg, Stahlhelm und Hitler (wie Anm. 31), S. 24-28, hier S. 24.
- Ebenda, S. 26.
- "Führerbrief der Bundesführer des Stahlhelm B.d.F." (31.12.1931), BArch Berlin, R 72/186, Bl. 93-96, hier
Bl. 93.
- Ebenda, Bl. 96.
- Berliner Montagspost (22.2.1932). Beide Karikaturen wurden am oder kurz nach dem 22. Februar 1932
veröffentlich, an dem Tag, an dem bekannt wurde, dass die Nationale Opposition gleich zwei Kandidaten für
die Reichspräsidentenwahl aufstellen würden.
- In: Der Angriff, 5. Jg., Nr. 187 (21.10.1932), S. 1.
- Goebbels, Die Tagebücher, Teil I, Bd. 2/II (12.10.1931), S. S. 123.
- Vgl. u. a. Reinhard Bein, Zeitzeichen. Stadt und Land Braunschweig 1930-1945, Braunschweig 2006, S. 41,
S. 44 ff.
- Vgl. Hans-Ulrich Ludewig/Dietrich Küssner, "Es sei also jeder gewarnt". Das Sondergericht Braunschweig
1933-1945, Braunschweig 2000, S. 63-68.
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