- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Frank Baranowski. Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945
Frank Baranowski (2013)
Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945
Festeinband 24 x 17 cm, 608 Seiten, 273 Abbildungen, darunter 260 Fotos, Verlag Rockstuhl,
Bad Langensalza, ISBN 978-3-86777(501-999), 49,95 €, Vorbestellungen unter
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www.verlag-rockstuhl.de/epages/63713257.sf/de_DE/?ObjectID=30277519
Zu einem Zeitpunkt, als im gesamten Deutschen Reich Kriegsführung und -rüstung erste
Zerfallserscheinungen zeigten, der bevorstehende Zusammenbruch der Fronten sich
abzeichnete und gezielte Luftangriffe der Alliierten die Schaltstellen der Rüstungsindustrie
massiv lähmten, gab es in quasi letzter Minute Bestrebungen, wichtige Rüstungsbetriebe
namentlich der Flugzeugindustrie in den Südharz zu verlegen. Dies, obwohl die Region
um Nordhausen bis dahin in der Rüstungspolitik keine wesentliche Rolle gespielt hatte.
Mit Ausnahme der unterirdischen Munitionsanstalten, die das Heer ab 1934 in stillgelegten
Kaliwerken von Bernterode bis Sondershausen eingerichtet hatte, war im Gegensatz zum
angrenzenden Gau Südhannover-Braunschweig ein nennenswerter rüstungskonjunktureller
Aufschwung bis Mitte 1943 ausgeblieben; allenfalls Zulieferaufträge gingen in geringem
Umfang an Betriebe südöstlich des Harzes. Auch hatten sich bis zu dem Zeitpunkt nur
wenige Firmen zum Zwecke der Kriegsproduktion in Nordthüringen neu angesiedelt, so etwa
die Gerätebau GmbH oder der Röhrenhersteller Lorenz in Mühlhausen. In den westlichen
Harzkreisen Goslar und Osterode bot sich hingegen ein anderes Bild. Dort ließ sich in den
Jahren 1934 bis 1938 eine Vielzahl neu gegründeter Betriebe nieder; eine Vorrangstellung
nahmen dabei die chemische und die metallverarbeitende Industrie ein.
In Göttingen verzeichneten Unternehmen der Feinoptik starke Zuwächse, ein weiteres
wichtiges Standbein stellten Luftwaffenaufträge dar. Noch weitaus prononcierter war
die Entwicklung in und um Braunschweig. Die Grundlagen dafür hatte die Reichswehr
bereits Anfang der 1930er Jahre mit ihrem Bestreben gelegt, sich trotz der auferlegten
Beschränkungen des Versailler Vertrages ein engmaschiges Netz an Zulieferern für
den „Bedarfsfall“ zu schaffen. Eine Vielzahl gerade alteingesessener Unternehmen profitierte
davon. Bereits frühzeitig warben sie Rüstungsaufträge ein, die ihnen das Überleben in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten sicherten, bevor sie später ganz von Rüstungsaufträgen
abhängig wurden. So entstand – zudem durch die Ansiedlung der Reichswerke Hermann
Göring und einiger anderer mit Staatsmitteln alimentierter Firmen – eine Industriedichte, die
im Reichsgebiet beispiellos blieb und zur Gründung ganzer Städte (Salzgitter, Wolfsburg)
führte.
Diese Ausweitung der Kriegsproduktion im Gau Südhannover-Braunschweig hatte zur
Folge, dass in zunehmendem Maße Fremd- und Zwangsarbeiter herangezogen, später auch
mehr und mehr KZ-Sklaven eingesetzt wurden. Da in der nordthüringischen Industrie ein
solcher rüstungskonjunktureller Aufschwung nicht stattfand, blieb die Nachfrage nach
ausländischem Personal zunächst gering. Erst mit der verstärkten Einberufung zur Wehrmacht
im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann ein stetiger Anstieg der
Zahl der Fremd- und Zwangsarbeiter; bis Ende 1943 war das allerdings nur in den wenigsten
Fällen auf eine wesentliche Aufstockung der Rüstungskapazitäten zurückzuführen. Allein
Rheinmetall-Borsig behauptete mit seinem Betrieb in Sömmerda eine Sonderstellung. Der
Konzern hatte in Thüringen unter Missachtung der Bestimmungen des Versailler Vertrages
bereits im April 1921 die Zünderfertigung wieder aufgenommen und im Folgejahr die
Entwicklung einer neuen Maschinenpistole vorangetrieben. Im Oktober 1922 beauftragte die
Reichswehr das Unternehmen, die gesamte von den Alliierten für Deutschland zugelassene
Menge an Zündern herzustellen.
Unmittelbar nach der Machtübernahme begann Rheinmetall-Borsig mit einer stetigen
Ausweitung seiner Kriegsproduktion in Sömmerda, die von nun an nicht mehr verdeckt
betrieben werden musste. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich das Werk zum
bedeutendsten Rüstungsunternehmen Nordthüringens, stand damit jedoch allein und völlig
losgelöst von der sonstigen Entwicklung in der Region. 1944 beschäftigte Rheinmetall
Sömmerda zeitweise 13.000 Arbeitskräfte und damit mehr als die im Juni 1944 jeweils
12.000 Beschäftigten bei Hanomag oder Conti, den beiden größten Unternehmen des
Rüstungskommandos Hannover.
Die wirtschaftliche Situation in Nordthüringen änderte sich in dem Moment, als die
Raketenmontage in die von der Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft (Wifo) geschaffene
und von Häftlingen des eigens gegründeten Buchenwalder Außenkommandos Dora unter
unmenschlichen Bedingungen ausgebaute Stollenanlage bei Niedersachswerfen verlagert
wurde. In ihrer Verblendung plante die NS-Führungselite seit dem Frühjahr 1944, nach dem
Beispiel „Dora“ weitere Produktionsstätten in Nordthüringen unter Tage zu dislozieren,
vorrangig solche der Flugzeugindustrie, wie es das Heer seit 1934 vorexerziert hatte. Dadurch
bedingt wurden fast explosionsartig weitere KZ-Außenlager gegründet, um deren Insassen
als Arbeitssklaven auf den zahlreichen Baustellen der Sonderstäbe auszubeuten, bis ihre
Lebenskräfte sie verließen. Keine dieser projektierten und unter hohen Menschenopfern in
Angriff genommenen „Großanlagen“ ging in Betrieb.
Gleichzeitig fand ab Mitte 1943 in immer stärkerem Umfang eine oberirdische Verlagerung
von wichtigen Rüstungsbetrieben in diesen „Mittelraum“ statt. Die Betriebsverlegungen
nahmen derartige Ausmaße an, dass spätestens im zweiten Quartal 1944 kaum mehr
freier Produktionsraum zur Verfügung stand und das Rüstungskommando dazu überging,
im ganzen Gebiet Wirtschaftszweige insbesondere der Textilindustrie, zugunsten
rüstungsindustrieller Verlagerungsbetriebe stillzulegen. Deren Nutznießer war erneut
vor allem die Flugzeugindustrie, die damit zu einer führenden Stellung in Nordthüringen
gelangte. Federführend war dabei der Junkers-Konzern, der zahlreiche seiner dezentralisierten
Betriebe im Harz und Harzvorland unterbrachte. Mit dieser Verlagerungsbewegung erhöhte
sich allein die Zahl der in Nordhausen tätigen Ausländer, bezieht man die in der Boelcke-
Kaserne untergebrachten Zivilarbeiter der „Nordwerke“ ein, auf über 10.000. Auf diese
Weise kam es im Stadtgebiet zu einem Ausländeranteil von fast 25 %, weit mehr als z. B. in
der Industriestadt Essen, die die meisten ausländischen Arbeitskräfte im Arbeitsamtsbezirk
Rheinland zählte.
Intention des neuen Buches ist es, diese Strukturveränderungen und ihre Gründe zu
analysieren. Es soll der Weg vom „Notstandsgebiet“ Nordthüringen zu einem wenn auch
unvollendet gebliebenen Rüstungszentrum dokumentiert und nachgezeichnet werden;
eine Zusammenballung von Waffenschmieden, die als Torso nur durch Ausbeutung von
Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen entstand und Zahllosen das Leben kostete. Als Kontrast
wird im ersten Kapitel ein Blick auf den schon ab 1933 zur Blüte gelangten industriellen
Ballungsraum Salzgitter-Braunschweig-Hildesheim – eines der Rüstungszentren des Reiches
von Anfang an – und die weitaus geringer, aber dennoch intensiv vom Rüstungsaufschwung
betroffenen südniedersächsischen Landkreise Göttingen, Goslar, Osterode und Northeim
geworfen. Bei nahezu gleichen Ausgangsbedingungen nahm die Entwicklung dort einen ganz
anderen Verlauf. Der rüstungsbedingte Aufschwung hielt in diesen Kreisen bis Kriegsbeginn
an, erhielt nach 1939 durch den Krieg aber keine neuen Impulse. In der Endphase des NS-
Regimes blieben hier nennenswerte Verlagerungstendenzen aus, wie sie in Nordthüringen zu
umwälzenden Veränderungen führten. Von gewisser Relevanz waren lediglich die Untertage-
Bauvorhaben im Hils bei Holzen (Projekt „Hecht“), in denen Zwangsarbeiter in großer Zahl
zum Einsatz kamen; eine rüstungswirtschaftliche Nutzung der Untertagebauten war dennoch
nicht erkennbar. Nennenswert ist noch der Flugzeugbauer Heinkel, der im Herbst 1944 eine
seiner Fabriken aus dem polnischen Mielec nach Bad Gandersheim in Gebäude der Firma
Bruns Apparatebau, die gerade bezugsfertig geworden waren, auslagerte. Er ließ dort von
mehr als 500 Häftlingen des werkseigenen KZs Flugzeugrümpfe montieren.
Es lässt sich nachweisen, dass der zeitversetzte Rüstungsaufschwung nicht nur
infrastrukturelle Gründe hatte. Vielmehr war er im heutigen Niedersachsen bereits in der
Weimarer Republik angelegt und hatte seine Grundlagen in den frühen, unter Verletzung der
Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages betriebenen Aufrüstungsbestrebungen
der Militärs. Die ‚Flucht aufs Land und in die Provinz‘, insbesondere in das bis 1943
nur untergeordnet mit Rüstungsaufträgen bedachte Nordthüringen, war hingegen einzig
aus der Not des alliierten Bombenkriegs und dem Streben nach Dezentralisierung
der Kriegsmaschinerie erwachsen, ohne nachhaltige Auswirkungen auf die Zeit nach
dem Krieg. Zur Verdeutlichung dieser in Schüben vollzogenen Entwicklung sind die
Steuerungsmechanismen aufzudecken und die an dem Prozess beteiligten administrativen
Entscheidungsinstanzen auf politischer und militärischer Ebene zu benennen. Darüber
hinaus stellt sich die Frage nach Verantwortung, Schuld und ‚Täterschaft’, insbesondere von
Industrie und Wirtschaft.
Nachdem die ‚Quelle’ ausländischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener nahezu versiegt
war, griffen die Unternehmen verstärkt auf das letzte noch verbliebene Arbeitskräftereservoir
zurück und integrierten in zunehmendem Maße KZ-Häftlinge, zum Teil in Baracken
unmittelbar neben der Fabrik untergebracht, in ihren Produktionsablauf. In diesem
Zusammenhang sind die unterschiedlichen Lebens- und Existenzbedingungen in der
Fabrik und in der Vielzahl an Untertagebaustellen der SS zu untersuchen und bestehende
Unterschiede aufzuzeigen. Abschließend ist zu erörtern, ob es ein gezieltes Programm
der „Vernichtung durch Arbeit“ gab, also der Einsatz von Häftlingen Mittel zum Zweck ihrer
Vernichtung war, oder ob die Vernichtung eine einkalkulierte, nicht aber vorsätzlich und
willentlich herbeigeführte Folge des Zwangsarbeitereinsatzes war.
Das Buch befindet sich in der Drucklegung und wird im Oktober 2013 erscheinen.
Vorbestellungen sind bereits jetzt möglich unter
http://
www.verlag-rockstuhl.de/epages/63713257.sf/de_DE/?ObjectID=30277519.
Der Rezensent konnte den Text bereits vor Druck sichten – der Band ist ein Muss für alle am Thema
Arbeitenden und Interessierten und bringt zahlreiche neue Fakten.
fk
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