- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Auschwitz und die Nachkriegszeit: Das Beschweigen und die Integration des IG-Farben Funktionärs aus Monowitz H. Schneider in die Stadtgesellschaft Goslars
lautete der Titel einer Veranstaltung von Spurensuche Harzregion e.V. im Anschluss des Gedenkens an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am Mi. 29. Januar 2014, 18.30 Uhr im Gemeindesaal Stephanikirche Goslar.
Auf der gut besuchten Veranstaltung ging es nach den Worten des Vortragenden, Dr. Peter Schyga, um die Frage, wie die Stadtgesellschaft mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit umgegangen ist.
In der sich anschließenden lebhaften und ernsten Debatte waren sich die TeilnehmerInnen einig, dass es Zeit würde, dies Kapitel Goslarer Geschichte sorgfältig und gründlich zu bearbeiten. Peter Schyga erwähnte in diesem Zusammenhang, dass er im Laufe des letzten halben Jahres dem Oberbürgermeister Dr. Junk zweimal schriftlich ein entsprechendes Forschungsangebot unterbreitet, allerdings keinerlei Reaktion erhalten habe.
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Auschwitz und die Nachkriegszeit: Das Beschweigen und die Integration des IG-
Farben Funktionärs aus Monowitz H. Schneider in die Stadtgesellschaft Goslars
Eine Veranstaltung von Spurensuche Harzregion e.V. im Anschluss des Gedenkens an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz
am Mi. 29. Januar 2014, 18.30 Uhr Gemeindesaal Stephanikirche, Goslar
© Peter Schyga
Wie vor zwei Tagen beim Auschwitz-Gedenktag, der hier am Trollmönch, dem ehemaligen Standort des Judenhauses begangen wurde, geht es heute auch um Auschwitz – aber
anders. Vorgestern fiel – wie üblich an Gedenktagen zu den Verbrechen des NS-Regimes – mal wieder das Wort vom „dunkelsten“ Kapitel deutscher Geschichte. Ich habe nie begriffen,
warum dieses Adjektiv immer bemüht wird, wenn es um die NS-Zeit gibt. Es ist nämlich einfach falsch. Die Zeit des Nationalsozialismus ist das am besten erforschte Kapitel
deutscher Geschichte. Es ist überhaupt nicht dunkel: Diese Zeit war die grausamste, mörderischste, menschenverachtendste, um nur einige treffende Beschreibungen
vorzuschlagen, Ära deutscher Geschichte. Was tatsächlich weitgehend im Dunkel der Vergangenheit schmort, – jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung – ist die unmittelbare
deutsche Nachkriegsgeschichte. Und insbesondere ihre kleinteilige lokal- und regionalgeschichtliche Bearbeitung. Deshalb will ich mich heute anlässlich des gerade
vergangenen Gedenktages mit der Nach-Geschichte von Auschwitz in dieser Stadt befassen – auch und gerade mit der Wahrnehmung damals gerade geschehener Vergangenheit.
Wahrnehmung konstituiert Handeln – jedenfalls wenn wir von einen einigermaßen rationalen Handeln sprechen wollen. Insofern können wir vom Handeln und Reden damals, das wir –
soweit überliefert – zu beurteilen vermögen, auch auf bestimmte Wahrnehmungsweisen und Selbstbildnisse gegenüber der Wirklichkeit schließen. Und wirklich ist ja nicht nur Gegenwart,
sondern auch die Vergangenheit in ihr. Wir wissen: Eine Wahrnehmung der Umwelt in ihrer Wirklichkeit ist nie absolut, immer selektiv. Eine selektive Wahrnehmung von Wirklichkeit ist
manchmal lebenswichtig – oder auch das Gegenteil, manchmal nicht nur praktisch, sondern verführerisch, um Unangenehmes nicht mehr erkennen zu müssen, verdrängen zu können.
Doch alle Wirklichkeiten lassen sich individuell oder kollektiv deuten, ohne dass sie mit Realität etwas zu tun haben müssen. Insofern kann Wahrnehmung auch immer Betrug und Selbstbetrug sein –ideologiegeprägt sagt man dazu. – Die Deutschen hatten ideologische Welt- und Selbstbilder intensiv einstudiert.
Schaut man auf die unmittelbare Nachkriegsgeschichte im Westen Deutschlands (den Osten lass ich heute weg, dort herrschten andere politische und ideologische Konstellationen – die Legende des guten deutschen Antifaschisten, der dann in den staatlich fixierten Gründungsmythos der DDR mündete – ), dann hat man den Eindruck, unsere Eltern und Großeltern im Deutschen Reich des Frühjahrs 1945 und danach haben ihre Wahrnehmungen so arrangiert, dass sie mit der unmittelbaren Vergangenheit irgendwie klar kommen konnten. Auch hier in Goslar.
Welches kursorische Bild bietet sich dem retrospektiven Betrachter?
Man war erschüttert über die militärische Niederlage – wie lange hatte man sich in den Erfolgen der Wehrmacht gesonnt und vom beherrschten europäischen Großraum geträumt. Man war erschüttert über die katastrophale wirtschaftliche Lage – es funktionierte ja nicht mehr viel (allerdings schon seit langem nicht mehr).
Man war erschüttert über privates Leid, trauerte um Angehörige. Man war erschüttert und erschrocken über die schier endlose Zahl der Flüchtlinge aus dem Osten, die hier nun Brot und ein Dach überm Kopf suchten. Man war erschüttert, dass nun ausländische Fremde, nämlich die Sieger, die Alliierten das Sagen hatten, man selbst sich irgendwie arrangieren musste mit der neuen Macht.
Man war auch empört, dass die freigelassenen Zwangsarbeiter – als displaced Persons verloren im Niemandsland der Siegermächte – hier und dort über die Stränge schlugen. Das musste man jetzt alles wahrnehmen, obwohl doch – abgesehen von den letzten zwei Kriegsjahren – die Welt ziemlich in Ordnung schien.
Doch kaum jemand schien erschüttert und empört über das Leid und den Tod von Millionen, das die Wehrmacht, die SS, die Einsatzgruppen, die Wirtschaftsbosse über Europa gebracht haben.
Kaum jemand war erschüttert über seine eigene Tat, seine in herrischem Gebaren daherkommende Unterwürfigkeit, seine Großmannssucht, sein schändliches Verhalten und Tun gegen Nachbarn und Mitbewohner, die dem großen Trommler nicht gefolgt waren. Das musste man nicht als wahr, nicht als wirklich geschehen annehmen. Diese Taten kamen einem vor wie verwelkt, wie aus dem Gedächtnis gelöscht bzw. in der Erinnerung umgemodelt unter dem Motto, das Paul Valery einst formulierte: „Geschichte ist das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekts produziert hat. (Denn) die Geschichte rechtfertigt, was immer man will.“ Mit anderen Worten: Man bog sich geronnene Realität so hin, wie sie zu ertragen war. Vor allem aber: man nahm sie so wahr, dass aus ihr keine
Belastungen für die Gegenwart erwuchsen.
Als etwa die Berichte über die Befreiung von Bergen-Belsen eintrudelten, als das millionenfache Mordgeschehen von Auschwitz allgemein bekannt wurde, musste man nichts davon gewusst haben, war nicht und nie dabei gewesen, so als hätte es das Judenhaus am Trollmönch nie gegeben, als wären vom Bahnhof keine Deportationszüge gerollt, als wären die zahllosen Zwangsarbeiter etwa Pensionsgäste gewesen – usw. Diese teilkollektive Amnesie, dieser individuelle Gedächtnisschwund, das politische Ausblenden unangenehmer und schrecklicher vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit schien Bedingung für das Überleben im Chaos, Bedingungen für das Vorwärts, Voraussetzung für das „Baut auf baut auf“.
Um das geht es Heute hier: um das Herantasten an die politischen Konstellationen, eine Annähern an das politische Handeln der Menschen der Nachkriegsgesellschaft – insbesondere natürlich der politisch Verantwortlichen.
Die Alliierten – erst für kurze Zeit die Amerikaner, dann die Briten – hatten seit ihrem Einmarsch am 10. April 1945 das Sagen in die Stadt und über ihre Verwaltung, über Betriebe und Versorgung, bestimmten sie die Politik – so dachten sie selbst, irrten sich aber gewaltig.
Die alten städtischen Eliten des Bürgertums, die 1932-33 so sang- und klanglos politisch abgedankt haben und zu mehr oder minder diskreten Komplizen der Nazis geworden waren, die dann die NS-Zeit irgendwie überstanden hatten, mischten – gestützt auf ihre informellen Verbindungen, die während der NS-Zeit nie abgerissen waren, nur andere Foren gefunden hatten –, weiter kräftig in der städtischen Politik nach 1945 mit. Zwar wurden 229 Parteiaktivisten ermittelt und kalt gestellt sowie teilweise interniert; 45 befanden sich noch im Juli 1946 in Internierungslagern, doch was machten, wie verhielten sich die Davongekommenen? Die De-Nazifizierung im Rahmen des von den Alliierten geplanten Aufbruchs der Wiedereingliederung Deutschlands in eine freiheitliche, demokratische und friedliche Welt steckte in den Anfängen. Sie galt im Wesentlichen der Überprüfung von Funktionsträgern, die die Siegermächte in die neuen Verwaltungsorgane der Kommunen und Regionen bestellten Entnazifizierungsausschüsse waren noch nicht eingerichtet. (Das ging erst 1946 richtig los) Man vergaß unmittelbar Vergangenes, sofern man es nicht positiv ausschlachten konnte. Das gab es zuhauf – Widerständler sprossen aus dem Boden wie Pilze im Frühherbst, dass sich ein außerirdischer Beobachter hätte wundern müssen, dass das NS-Regime überhaupt existieren konnte.
In diese Stadt kam nun einer mit einem ganz besonderen Stück persönlicher Vergangenheit im Gepäck aus dem Osten des einst großen deutschen Reichs. Er wusste alles über die Verbrechen und Scheußlichkeiten des NS-Regimes. Er hatte die Hybris, den Vernichtungswillen des Regimes und seiner Helfer seit Jahren hautnah täglich erlebt. Er war dabei gewesen war – in Auschwitz. Er war Teil der Ausbeutungs-, Versklavungs- und Vernichtungsmaschinerie.
Er war Pförtner am Eingang zur „Hölle“, (Agnes Heller SZ-Magazin 4/2014 S.38: „Der Nationalsozialismus war kein Unglück, er war die Hölle“) Mit Hannah Arendts Worten sei auf die drei Schritte auf dem Weg zur Hölle, zur völligen Rechtlosigkeit noch vor der physischen Vernichtung hingewiesen, ein Prozess, von dem jeder wissen konnte und den auch dieser Mann verfolgt hatte:
„Tötung der juristischen Person“, d.h. Beseitigung aller individuellen Schutzrechte von Menschen.
„Ermordung der moralischen Person“, da „diese in der Gesellschaft und im Zusammenleben mit anderen Menschen verankert ist“, nämlich als ein wechselseitiges, gesellschaftliches Verhältnis des Respekts und der Anerkennung.
„Zerstörung der Individualität“ – eine Hauptfunktion der Lager; außerdem natürlich Zwangsarbeit und Vernichtung durch Arbeit. Der Pförtner zur Hölle jedoch fühlte sich durch die Menschenvernichtung in seiner Lebensqualität belästigt:
„Er sah die Verbrennungsöfen, roch das verbrannte Fleisch und hörte von den in die Verbrennungsöfen bei lebendigem Leibe geworfenen Menschen.“ (Aus einem späteren Selbstzeugnis vor Gericht und in ähnlicher Formulierung in seinen autobiografischen Notizen „Traumatinische Irrfahrt“)
Er hatte dort an verantwortlicher Stelle als Arbeitsorganisator der IG Farben im Buna-Werk Auschwitz/Monowitz gewirkt; seine Frau hatte im April 1942 ihre zweite Tochter zur Welt gebracht – Auschwitz steht in einer Geburtsurkunde. Welch Zynismus und welch persönliche Last für das Kind. Der Mann verließ seine Wirkungsstätte in den ersten Januartagen 1945.
Im März kam er in diese Stadt am Ende seiner – soviel wir wissen recht komfortablen – Flucht vor der Roten Armee, die am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit hatte.
Der Mann hieß Helmut Schneider, Jahrgang 1910, geboren in Schkeuditz/Merseburg als Sohn eines Fabrikanten und Kaufmanns, aufgewachsen in Goslar, Studium der Juristerei in Kiel, München, Göttingen. Sein 1. Staatsexamen legte er im Oktober 1933 mit ausreichend ab und wurde ein Jahr später Referendar. Im September 1936 heiratete er Barbara Pfister, die Tochter des Bergwerkdirektors i. R und Dr. h.c. Fritz Pfister. Sein Assessorexamen bestand er im April 1938 (mit ausreichend) und erhielt im August des Jahres eine Anstellung als Referent der IHK Halle /Saale, der erste Schritt einer steilen Karriere, eingebettet und befördert durch Beziehungen und Kontakte. Ab April 1940 war er halbes Jahr beim Oberkommando der Wehrmacht aufgrund „kriegwirtschaftlicher Spezialkenntnisse“
(Fremdsprachenkompetenz) tätig, was ihm die Einberufung zur Wehrmacht ersparte. Dies Schicksal ereilte ihn auch später nicht, denn er war ab Oktober 1940 in kriegswirtschaftlich wichtigen Betrieben tätig und somit unabkömmlich: Zuerst bei den Hydrierwerken Pönitz, einer Tochter der IG-Farben, ab Okt. 1941 als Abteilungsleiter Recht und Stellvertreter (von Walter Dürrfeld bzw. Heinrich Bütefisch) für „Arbeiterangelegenheiten“ in den Bunawerken Auschwitz/Monowitz. Von seinem Arbeitgeber hatte er sich in „beiderseitigem Einvernehmen“ getrennt, so seine schriftliche Bekundung im späteren Entnazifizierungsverfahren.
Der gerade mal 35-jährige tatkräftige Mann suchte in dieser Stadt nun eine Anstellung – eine „neue Herausforderung“, sollte er später sagen – und fand sie als Justiziar und Assessor in der Stadtverwaltung. Die erste NS-Überprüfung im Herbst 1945 durch Major Hinxmann hatte er unbeschadet überstanden. Schneider hatte gegenüber den alliierten Stellen seine Anstellung bei den IG-Farben genannt. Dass er in Auschwitz tätig war, wussten jedoch zu dem Zeitpunkt nur seine Vertrauten.
Zu denen zählte sein Freund, der Rechtsanwalt Dr. Schulze, später Vorsitzender des Entnazifizierungsausschusses. Er hatte ihn für die Anstellung empfohlen. Der nach seinem inneren Exil zurückgekehrte und wieder ins Amt des Verwaltungschefs geholte Dr. Wandschneider (SPD) – er war von 1918 bis zu seiner Vertreibung durch die Nazis 1933 Oberstadtdirektor gewesen – verwandte sich ebenso für ihn, wie auch der 1933 verjagte und nun nach Goslar zurückgekehrte republikanische Oberbürgermeister Klinge. Der agile junge Mann machte sich in den Augen seiner Vorgesetzten so gut, dass er zum 1. März 1947 zum Stadtdirektor ernannt wurde. Sein unangefochtenes Standing in der Stadt schnellte ihn nur etwas mehr als ein Jahr später in die Position des Oberstadtdirektors. Die Stelle war im September 1948 ausgeschrieben worden. 60 Bewerbungen gingen ein, Schneider beließ es bei einer formlosen Bekundung seines Interesses an der Position. Er wurde am 22. Oktober
1948 mit überwältigender Mehrheit des Stadtrats in das neue Amt gewählt, das er bis zu seinem frühen Tod 1968 innehaben sollte.
Bei der feierlichen Amtseinführung überboten sich die Laudatoren in ihren Elogen auf die Tatkraft und den dynamischen, aufrechten Charakter des Helmut Schneider, der in den Aufbaujahren seit dem „Zusammenbruch“ (so Schlehbusch / SPD = Präs. des nds. Verw.bezirks BS) viel geleistet habe. Er verkörpere durch seine Erfahrung in der Wirtschaft, in der Juristerei und Verwaltung den Typ des modernen Machers, den man nun brauche. Schlehbusch: „Sie bringen für dieses Amt Voraussetzungen mit, …(und mich freut), dass Sie zu jenen Beamten gehören, die den modernen Weg eines Beamten gegangen sind. Ich bemühe mich überall, das Beamtentum zu modernisieren, und freue mich, wenn wir leitende Beamte bekommen, die nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der freien Wirtschaft
tätig waren, Verwaltung und Wirtschaft hängen ursächlich zusammen.“
Und Schneider meint von sich selbst in seiner unbescheidenen gutsherrlichen Art: „Und ich glaube schon, dass es, wenn ich mich bewähren sollte, was Gott geben möge, eine glückliche Fügung ist, dass der Rat der Stadt in mir einen Mann gewählt hat, der auf Grund seiner beruflichen Vergangenheit eine untrennbare Synthese darstellt zwischen kaufmännischem Denken und überkommenen verwaltenden und juristischen Denken. Ich bin sicher dass diese Synthese eine gesunde ist. … Verwalten kann man nicht lernen, das ist mir in den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit längst bewusst und klar geworden. Ein Verwaltungsmann wird geboren. Und ich hoffe, dass ich als solcher geboren bin.“
Oberbürgermeister Klinge setzte dem noch eins drauf: „Es ist gut, dass Sie in jungen Jahren in ihrer wirtschaftpolitischen Betätigung sich dem auffrischenden, oft scharfen Wind des wirtschaftlichen Lebens haben um die Nase wehen lassen und mit sehenden Augen Einblick genommen haben in die Zusammenhänge der großen Wirtschaftsführung, das Ineinandergreifen der Räder und des Getriebes kaufmännischer und wirtschaftspolitischer Belange und ihre Zusammenhänge kennengelernt haben.“
Und spätesten hier, denke ich, müssen wir mal ein wenig nachhaken:
Jeder der damals dort Anwesenden wusste inzwischen, wo sich Schneider den „auffrischenden, oft scharfen Wind des wirtschaftlichen Lebens (hat) um die Nase wehen lassen“, wo und in wessen Diensten er „mit sehenden Augen Einblick genommen (hat) in die Zusammenhänge der großen Wirtschaftsführung, das Ineinandergreifen der Räder und des Getriebes kaufmännischer und wirtschaftspolitischer Belange und ihre Zusammenhänge kennengelernt (hat),“ – bei den IG-Farben in Auschwitz/Monowitz. Jeder konnte eigentlich auch wissen, wie die freie Wirtschaft im Nazireich und die der IG-Farben insbesondere aussah: frei von jeder moralischen, rechtlichen, marktgesetzlichen Beschränkung der Profitmaximierung, frei zu rauben und zu plündern, zu versklaven und zu Tode arbeiten zu
lassen. Und die IG-Farben hatte eine Spitzenstellung in der deutschen Industrie inne.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zur IG-Farben zwischenschieben, nicht jedem ist dieser Konzern geläufig: Ich will dazu nur kurz den entsprechenden Artikel von Bernd Wagner aus der „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“ zitieren. (Hg. W. Benz. H.Graml. H. Weiß, München 2007 5. aktualisiert und erweiterte Neuausgabe v. 1997) „Als größter deutscher Industriekonzern (…) führend auf allen Gebieten der Chemie war die I.G. das am tiefsten in die Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen des NS-Regimes verstrickte Großunternehmen. Ihre führende Rolle bei den Kriegsvorbereitungen seit 1933
(Feder-Bosch-Abkommen) gipfelte seit 1936 (mit dem Göringschen Vierjahresplan) in der Verschmelzung NS-staatlicher und großkapitalistischer Funktionen und Institutionen. Carl Krauch (Mitglied des Vorstands, seit 1940 Mitglied des Aufsichtsrats des Konzerns) regulierte als Generalbevollmächtigter für Sonderfragen der chemischen Erzeugung große Teile des deutschen Investitionsvolumen und sicherte der Wehrmacht die Mindestversorgung mit Treibstoff, Buna, Sprengstoff, Giftgas usw. Die IG, einer der größten ‚Arisierer’ und Kriegsprofiteure, fasste den Krieg als Gelegenheit zur Herstallung ihres Weltmonopols auf und griff rücksichtslos in die Eigentumsverhältnisse polnischer, französischer, norwegischer, sowjetischer und anderer Unternehmen ein. Sie beschäftigte
1944 über 83.000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Die IG war Bauherr des großen Industriekomplexes, der seit 1940/41 in Auschwitz errichtet wurde und für den das dortige KZ Arbeitskräfte stellte. Die SS-Strategie der ‚Vernichtung durch Arbeit’ verband sich hier mit dem von der IG-Führungskräften ausgearbeiteten System der Ausbeutung ständig vom Tod bedrohter KZ-Häftlinge. Allein im Häftlingsarbeitslager Auschwitz-Monowitz, wo zuerst 3.000, später bis zu 11.000 Häftlinge auf der Baustelle des IG-Bunawerkes arbeiteten, wurden während seiner Existenz (Okt. 1942- Jan. 1945) mindestens 20.000 Todesopfer gezählt. (…)“.
Bevor der Einwand kommt, das habe man damals noch gar nicht alles wissen können, sei bemerkt: Gewiss, das gesamte schier unermessliche Ausmaß der verbrecherischen Tätigkeit der IG-Farben-Leute war damals noch nicht bekannt. Nur: Seit dem Beginn der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse konnte jeder wissen, was in Auschwitz geschehen war. Und: seit dem 27. August 1947 lief die Hauptverhandlung im Kriegsverbrecherprozess gegen 23 führende Manager des IG-Farben-Konzerns.
Die feierliche Amtseinführung Schneiders fand knapp drei Monate nach der Urteilsverkündung vom 29. Juli 1948 statt. Bei allen Einschränkungen, die ein juristisches Verfahren der Aufklärung historischer Prozesse auferlegt – man kann ja nur verhandeln, was als justiziabel angesehen wird– wurde einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, welch verbrecherische menschenverachtende Unternehmenspolitik die IG-Farben in Auschwitz und anderswo betrieben hatte. Die Anklagepunkte (in Kurzfassung, vgl. : Karl Heinz Roth 1980: Case VI Der Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben www.wollheim-memorial.de):
1. Planung, Vorbereitung, Beginn und Führung von Angriffskriegen durch ein
strategisches Bündnis mit der NS-Macht
2. Plünderung und Raub in den annektierten und besetzten Gebieten.
3. Teilnahme am Sklavenarbeiterprogramm und an der Genozidpolitik des NS-Diktatur.
4. Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen.
5. Gemeinsamer Plan zur Verschwörung gegen den Frieden.
Die Verhandlung war öffentlich; eine Berichterstattung fand statt. Dutzende von Zeugen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung wurden gehört. Die nunmehr dem Kalten Krieg geschuldete politische Haltung der Mehrheit des Gerichts ließ nur 2 Anklagepunkte (Plünderung und Raub sowie Sklavenarbeit) zu. Die geschickte Medien- und Lobbypolitik der IG-Farben-Führung, die sich – auch auf der Grundlage gefälschter Betriebsakten – als normale Fabrikanten darstellte und zum Opfer der NS-Machthaber stilisierte, führte zu zehn Freisprüchen und relativ milden Urteilen zwischen 1 ½ und 8 Jahren Freiheitsentzug. Im Sommer 1951 war der letzte der Verurteilten, Otto Ambros, entlassen.
Der Prozess brachte es allerdings mit sich, dass die in Goslar nur einem kleinen Kreis bekannte Vita des neu gekürten Oberstadtdirektors nun öffentlich wurde. Er war nämlich Zeuge der Verteidigung in dem Prozess, musste öffentlich zu den Vorwürfen gegen seine direkten Vorgesetzten Dürrfeld und Bütefisch Stellung nehmen. Da geriet der Zeuge Schneider, der seine Chefs entlasten sollte und sich nicht gleichzeitig selbst belasten wollte, kräftig ins Schwimmen, verwickelte sich in Widersprüche, erzählte so wirres Zeug, dass ihn das Gericht bald als unerheblich für die Beweisführung entlassen musste. Allerdings wurde nun der Entnazifizierungsausschuss beim „Hauptausschuss für die besonderen Berufsgruppen im Verwaltungsbezirk Braunschweig“ auf den Fall Schneider aufmerksam.
Am 2. April 1949 fasste dies Organ den Beschluss, die als erledigt geltende Entnazifizierungssache Schneider wieder aufzunehmen.
Nach seiner Schnellentnazifizierung 1945 hatte sich Schneider im Blick auf seine Berufung zum Stadtdirektor 1947 einem neuen Verfahren zu unterziehen gehabt. Mit seiner und der die Richtigkeit der Angaben bestätigenden Unterschrift seiner Frau am 12. Dez. 1946 landete der Entnazifizierungsbogen beim entsprechenden Ausschuss unter Leitung von Dr. E. Schulze.
Darin heißt es unter der Frage nach dem Arbeitgeber: „1941-1945 I.G. Industriewerke AG, Werk Auschwitz“, nach der Frage um seinen Vorgesetzten: „Direktor Dürrfeld“, seine Stellung/Dienstgrad bezeichnete er „Abteilungsleiter und Handlungsbevollmächtigter“ seinen Tätigkeitsbereich: „Sozial- und Rechtsabteilung“, sein monatliches Einkommen bezifferte auf „ca 1.000,- Reichsmark“. Seine Fremdsprachenkenntnisse beurteilte er als auf schulischem Niveau angesiedelt. Er gab an, bis auf seine Mitgliedschaft im „NS-Rechtswahrerbund“ keiner Parteiorganisation angehört zu haben. Welche Partei er im Nov. 1932 und im März 1933 gewählt hatte, wusste er nicht mehr. Er bekundete schriftlich, zwischen Febr. 1942 und Febr. 1944 mehrmals ins Ausland (Italien, Frankreich, Belgien) zu Verhandlungen mit Firmen, Behörden und Dienststellen gefahren zu sein. Der Ausschuss winkte den Bogen durch, der Bescheid, Schneider in Kategorie V = entlastet einzureihen, wurde von der
alliierten Behörde in Braunschweig am 20. 5. 1947 bestätigt.
Es hatte seit April 1945 keiner, der etwas zusagen hatte, nachgefragt, geschweige denn nachgeforscht. Auschwitz schien keine Nachfrage wert zu sein. Wenn allerdings öffentlich nachgehakt wurde, wie im Zuge von Schneiders Ernennung zum Stadtdirektor im Frühjahr 1947, sprangen ihm deutsche und alliierte Freunde bei. Kommunistische Zeitungen hatten seine Auschwitz-Vergangenheit an die Öffentlichkeit gebracht und verlangten entsprechende Erklärungen. Da westdeutsche und westalliierte Politik seit geraumer Zeit auf Antikommunismus gepolt waren, wurden diese Meldungen als „Attacken linksradikaler Zirkel, die behaupteten, Schneider hätte in Auschwitz Befehlsgewalt gehabt,“ abgetan. „Aber,“ so die öffentliche Stellungnahme des Alliierten Offiziers R. Cohen (in meiner Übersetzung), „Schneiders Tätigkeit hatte nichts mit dem KZ zu tun, das in der Hand der SS lag. Darüber hinaus beteuerte er, dass die KZ-Gefangenen alle erpicht darauf, waren in der IG-Farben
Fabrik zu arbeiten, weil die Behandlung und das Essen wesentlich besser waren als im KZ.
Schneider hätte betont, dass Dir. Dürrfeld und er einen steten Kampf auszufechten hatten, um die Lebensbedingungen der KZ-Arbeiter zu verbessern.“
Solche Legendenerzählungen waren zu der Zeit allgemein üblich, waren offizielle Lesart. Die Erfindung des guten Deutschen, der unter der Fuchtel der Nazis, mit denen er eigentlich überhaupt nichts zu tun haben wollte, noch das Beste aus der Lage gemacht hätte,beherrschte das Selbstbild in dieser Periode der Nachkriegszeit, da das öffentliche Leben zunehmend aus der Regie der Alliierten in die Hand der Deutschen überging. Ein Effekt dieses Demokratisierungsprozesses bestand in dem zunehmenden und heftiger werdenden politischen und publizistischen Attacken gegen die alliierten Dienststellen. So sollte der erste Bestseller der Nachkriegszeit das Buch „Der Fragebogen“ von Ernst v. Salomon werden.
1951 bei Rowohlt erschienen brachte es diese, die deutsche Opferhaltung explizierende Hetzschrift gegen Entnazifizierungspraxis auf eine Auflage von über 250.000. Der radikalnationalistisch-antidemokratische Schriftsteller hatte in diesem Buch nur die weit verbreitete Haltung der Deutschen wiedergegeben. Wir finden solche Anklagen gegen die
Alliierten seit 1946 überall. Hier in Goslar etwa in den monatlichen Berichten der Stadtverwaltung (Kämmerer Wulfert) an die alliierte Behörde. Darin wurde über die Entnazifizierungspraxis, die das „Miteinander schwer beschädigen“ würde, lamentiert.
Gefordert wurde die Wiederzulassung der bürgerlichen Zeitungen (die GZ war gemeint, die nun gewiss zu einem NS-Blatt mutiert war – sie wurde erst 1949 wieder zugelassen), um der „einseitigen Berichterstattung der Linkspresse“, gemeint ist die Braunschweiger Zeitung mit sozialdemokratischer Ausrichtung, entgegentreten zu können – usw. Vorbehalte, ja Denunziationen und Attacken gegen alliierte Rechtssprechung und politische Einflussnahme beherrschte die öffentliche Meinung der Zeit.
In dies Reden von der Siegermentalität und Siegerjustiz passte der Beschluss aus Braunschweig, den es zu konterkarieren galt. Die Grundlage für den Beschluss zur Wiederaufnahme des Verfahrens war der Tatsachenbericht einer alliieren Kontrollbehörde (Public Safety Branch). Laut ihm wurde ein Helmut Schneider, männlich, Zivilist, Direktor im KZ Auschwitz in Frankreich und Polen wegen Mordes gesucht. Dieser knapp 5-seitige Bericht schildert eine Reihe von Drangsalierungen und schweren Straftaten, die Schneider zur Last gelegt wurden. Etliche Zeugen zu den Vorfällen kommen darin zu Wort. – Ich lass das hier aus, wer genaues hören will, frage nachher nach.
Mit der Aufnahme der Ermittlungen gegen Oberstadtdirektor Schneider fühlte sich die politische Elite der Stadt und darüber hinaus herausgefordert. Diese Elite bestand aus einer bürgerlichen Ratsmehrheit mit sozialdemokratischer Teilhabe. Schneider war mittlerweile SPD-Mitglied (vorher war er in der DP). Niemand aus dieser Riege hatte ein Interesse, dass ihr Mann irgendwie beschädigt würde – erst recht nicht durch die historische Wahrheit.
Schneider schien für die fragile politische Lage in der Stadt unverzichtbar. Seine steile Karriere, die er als SPD-Mitglied auch den Stimmen der Opposition zu verdanken hatte, sollte auf jeden Fall makellos bleiben, denn er verkörperte in seiner Stellung den politischen Nachkriegskompromiss im Rathaus. Nicht nur aus dem Rathaus kam Rückenwind.
Schneider war etwa führendes Mitglied des Ernst-Jünger-Verehrungsclubs in der Stadt, dem die erhebliche Teile Stadtelite angehörten. Er gab das Cluborgan „Der Neue Morgen“ heraus, zwar ein Blättchen kümmerlichster Jüngerimitation, das aber in Goslar ankam. (Die privat-geschäftlich-politischen Vernetzungen in dieser Stadt wird man wohl nie aufdröseln können – in Angriff nehmen müsste man solch Vorhaben schon.)
Was also nun tun?
Die Entscheidung des Braunschweiger Untersuchungsausschusses im Nacken traten am 18. Febr. 1949 Klinge, Schlehbusch, Otto Fricke u. a. beim Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf an, um eine Taktik zu beraten, ihren gemeinsamen Oberstadtdirektor unbeschadet aus der ganzen Angelegenheit herauszuboxen. Schneider sollte sich beurlauben lasse, und die Braunschweiger Staatsanwaltschaft sollte ein Strafverfahren einleiten in der berechtigten Erwartung, dass solch ein Verfahren unter Kontrolle und Prozessstrategie entsprechend eingestellter deutscher Stellen bei den hohen Beweishürden eines Prozesses nur zum Freispruch führen könnte. Die Staatsanwaltschaft selbst beteiligte sich dabei eifrig an der Demontage ihrer einzigen Augenzeugin, wie der alliierte Beobachter, der Deputy Inspector General Major Smith erbittert notierte. Die Verteidigung hatte im Prozess alle Anschuldigungen bestritten und vielmehr Schneiders edle antifaschistische Haltung herausgestrichen: „Es war nämlich diesen Zeugen und einer großen weiteren Zahl bei der IG Auschwitz beschäftigter Personen durchaus bekannt, dass der Angeschuldigte nicht Nationalsozialist, vielmehr ein Gegner des NS-Systems war, der mutig genug war, überall dort unter Einsatz seiner Person helfend gegen nationalsozialistisches Unrecht einzugreifen, wo ihm dies möglich war.“
So kam es wie es kommen musste: Unter Vorsitz des Landgerichtsrats Jäger sprach die 3. Strafkammer beim Landgericht Braunschweig Schneider am 20. Dez. 1949 vom Vorwurf der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung frei.
Schneider ist danach wieder im Amt und die Stadt zahlt ihm einen Zuschuss zu den Prozesskosten in Höhe von 2.400 DM. Am 28.2.1951 wird dann auch das Entnazifizierungsverfahren eingestellt.
Die Angelegenheit war erledigt. Schneider nahm seine Arbeit wieder auf und –bald zunehmend gezeichnet durch eine schwere Krankheit – leitete er die Stadtverwaltung bis zu seinem Tod 1968.
Epilog:
Am 10.6. 1953 berichtete die GZ über den Wollheim-Prozess vor dem Frankfurter Landgericht. In diesem Zivilprozess erstritt der ehemalige IG-Farben-Häftling Norbert Wollheim eine Entschädigung von 10.000 Mark. Die GZ: „In der Urteilsbegründung stellte das Gericht fest, was Wollheim (…) und den anderen jüdischen KZ-Häftlingen (in Monowitz, P.S.) widerfahren sei ‚übersteige in früher nicht Vorstellbarem das Maß dessen, was man in Deutschland für möglich und erträglich gehalten“’ habe. (…) Aus den Zeugenaussagen habe das Gericht eine ‚entsetzliche Gleichgültigkeit der IG und ihrer leitenden Angestellten gegenüber Wollheim und gefangenen Juden festgestellt’“. Die Zivilkammer habe keinen Zweifel daran, dass die Häftlinge in einzelnen Arbeitskommandos zeitweise bewusst in den
Tod getrieben worden seien. Zu den Zeugen der IG meint die GZ, das Gericht zitierend: Sie hätten sich angesichts des Unglücks und des Todes von Tausenden von Menschen „auf hässliche Ausflüchte und unmenschliche – auch sachlich unrichtige – Berechnungen zurückgezogen.“
Nachfragen bei Oberstadtdirektor Schneider blieben weiter aus.
Nachtrag: In der sich dem Vortrag anschließenden Debatte wurde angemerkt, dass mit Ratsbeschluss im Jahr 1978 eine Straße nach Helmut Schneider benannt wurde.
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