- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Zum Rechtsextremismus der Nachkriegszeit - Nachdenken über Begriffe und ihre
historischen Bezüge
Peter Schyga
Zum Rechtsextremismus der Nachkriegszeit - Nachdenken über Begriffe und ihre
historischen Bezüge
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Wir von Spurensuche Harzregion e.V. haben uns mit zwei Vorträgen in die Vorbereitung der
Aktionen gegen den geplanten Stiefelnaziaufmarschs am 2 Juni eingebracht, weil wir
meinen, dieser Provokation unseres demokratischen Gemeinwesens nicht nur durch eine
Abstimmung mit den Füßen unter möglicher Zuhilfenahme anderer Körperorgane
begegnen zu müssen.
Ich denke, wir können diesen Anlass produktiv nutzen, um uns selbst besser mit
Argumenten und Einsichten zu wappnen, dem allgemein zunehmenden Rechtsruck in
unserer Gesellschaft entgegenzuwirken - die anderen Veranstaltungen Aktionen etc.
innerhalb der Bunten Wochen tun das in ähnlicher Weise.
Unsere Kompetenz liegt auf dem Gebiet der Zeitgeschichte und so will ich heute im
Anschluss an Markus Webers Referat zur Harzburger Front und ihrer schier zeitlos
erscheinenden rechtsextremistischen Kontinuität ein Kapitel über den Rechtsextremismus
der Nachkriegszeit hinzufügen.
Ich möchte das Berichten über die Jahre 1945 bis 1953, dies Jahr ist gesetzt als Datum der
2. Bundestagswahl, als Jahr, in dem die unmittelbare Nachkriegszeit als beendet angesehen
werden kann, als Jahr, in dem die Weichen für die weitere Zukunft der Bundesrepublik -
übrigens auch der DDR - gestellt waren, auch zur Analyse von politischen Bewegungen
nutzen.
Konkret: ich frage nach dem Gehalt des Begriffs Rechtsextremismus, was ist damit
eigentlich gemeint, was unterscheidet ihn von einer Bezeichnung wie Rechtspopulismus,
auch: was unterscheidet ihn von einer nationalsozialistischen, oder - weil manche den
wenig präzisen Begriff so lieben - faschistischen Zuschreibung?
Warum ist solche Begriffsbestimmung nötig, warum sollen rechte Strömungen,
Bewegungen, Parteien, Thinktanks, Publikationsorgane etc. begrifflich unterschieden und
eingeordnet werden? Es gibt einen einfach zu benennenden und doch schwierig zu
praktizierenden Grund. Es stellt sich die Frage: Wie geht man a) mit Feinden von Republik
und Demokratie um und b) wie unterscheidet man sie von hoch konservativen, doch
Republik und Demokratie achtenden Parteien und Verbänden?
Wir werden sehen, dass solche Differenzierung nicht einfach zu machen ist und wir werden
sehen, dass sie immer im historischen Kontext betrachtet werden sollte.
Allerdings: Ein Lakmustest, ein Kriterium, das seit der Zeit der politischen Moderne gilt, ist
die Frage: Wie hältst du es mit der Menschenwürde, mit den Menschenrechten, mit den
Freiheitsrechten der Bürger*innen gegenüber dem Staat?
Demokratie, nur verstanden als durch Wahlen zu bestimmende Repräsentationsform eines
Staatsvolks, kann ein solches Kriterium nicht sein. Denn wie Viktor Orban schon 2014 sagte:
"Demokratien sind nicht notwendig liberal. Auch wenn etwas nicht liberal ist, kann es doch
eine Demokratie sein". Mit diesem Diktum leitete er die ära der illiberalen Demokratie in
Ungarn ein, gern aufgegriffen in anderen Ländern Osteuropas - und was nun in Italien
passiert, geht in genau diese Richtung.
Was zeichnet, wenn man diesen Begriff benutzen will, eine liberale Demokratie aus? Nicht
nur das Recht auf Privateigentum, was etwa Marktliberale an erster Stelle meinen, nicht
nur das Recht einer politischen Mehrheit, die Regierung zu stellen und damit verantwortlich
Gesellschaft zu gestalten, nicht nur die Sicherung von Rechten der Bürger*innen gegenüber
dem Staat, eines der wichtigsten hart erkämpften und stets gefährdeten - man schaue sich
dein neuen Polizeigesetze der Bundesländer an - Güter unserer Demokratiewesentlich ist -
das hört sich wie selbstverständlich an, ist es aber keineswegs, wie wir erfahren müssen: sie
"schützt das Recht der Minderheiten, stellt sicher, dass der Wahlverlierer bei den nächsten
Wahlen erneut antreten können. [...] Die selten bemerkte Kehrseite für die Wahlgewinner
liegt darin, dass die liberale Demokratie keine Chancen auf einen vollständigen oder
endgültigen Sieg bietet."
2
"Wir jagen die Regierung, wir holen uns unser Volk zurück", dieser Spruch von Gauland am
Abend der letzten Bundestagswahlen drückt genau diesen Anspruch auf Majorisierung aus.
Und:"Das Paradoxon der liberalen Demokratie besteht darin, dass die Bürger freier sind, sich
aber machtloser fühlen. Die Forderung nach einem echten Sieg bildet einen zentralen
Aspekt der Attraktivität populistischer Parteien."
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The Winner takes it all, das ist TrumpPolitik,
das ist Orban- oder Kasczynski-Politik. Wir können dies Phänomen in der
Nachkriegszeit dieser Stadt beobachten. Machtlos fühlten sich manche Bürger*innen, weil
Ihnen die Ratshauspolitik nicht passte. Sie waren so frei, sich in so genannten
Nachbarschaften zu organisieren, um der Stadtverordnetenversammlung und der
Verwaltung Dampf zu machen. Sie hatten die Freiheit, ihre partikularen Interessen zu
formulieren und nahmen sich die Freiheit, das Gemeinwesen insgesamt mit dem Versuch
ihrer Selbstermächtigung zu diskreditieren. Ich kann das hier nicht weiter ausführen, habe
in meinem Buch zur Nachkriegsgeschichte der Stadt aber einiges zu dieser Art
Wutbürgertum geschrieben.
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"Populisten behaupten: 'Wir sind das Volk!' Sie meinen jedoch - und dies ist stets eine
moralische, keine empirische Aussage (und dabei gleichzeitig ein politische Kampfansage): '
Wir - und nur wie - repräsentieren des Volk," zitiert Ivan Krastev Jan-Werner Müller und
fährt fort: "Populisten behaupten nicht, für alle Polen, Franzosen oder Ungarn zu stehen;
sie erheben vielmehr den Anspruch, für alle 'wahren Polen', alle 'wahren Franzosen' alle
'wahren Ungarn' zu sprechen. Die Wahlerfolge der Populisten verwandeln die Demokratie
aus einem Instrument der Inklusion in eines des Ausschlusses."
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Nur ein kleiner Hinweis zur Begrifflichkeit: Ich denke in diesem Zusammenhang macht der
der Begriff "Populismu" Sinn, denn Selbstermächtigung, die an Hybris grenzt, ist ein
zentrales Kennzeichen solcher Art der Politik. Weitere Handeln zeigt dann die Richtung
eines Populismus, nämlich wieweit Exklusion und damit ein Freund-Feind-Denken und -
Handeln politisches Programm wird.
So kann man hinzufügen: Um einen einmal erreichten Sieg für lange Zeit sicherzustellen,
werden Instrumente zur Knebelung der Minderheit und zur autoritären Sicherstellung von
Herrschaft geschaffen: Wahlrechtsänderungen, änderungen der Gewaltenteilung durch
Drangsalierung der Legislative und der Rechtsprechung, Einschränkung der Pressefreiheit,
änderung des Bildungswesens etc. pp. - von den korrumpierenden Geschenken an die
Wähler*innenmajorität, einmal ganz abgesehen. Die Differenzen zwischen einer illiberalen
Demokratie und einem autoritären oder auch protofaschistischen Staat scheinen nicht allzu
groß. Den Unterschied zwischen Orban- oder Putin- oder Erdogan-Regime wird kaum
auszumachen sein. Wahlen, so hoch sie auch in Kriegen um Regimewechsel oder statebuildings
gehalten werden und für die Gesellschaften in autoritären Regimen bedeutsam
sein mögen - zweifellos sind etwa Kämpfe gegen Wahlfälschungen, um freie und gleiche
Wahlen starke Instrumente um Staatsbürger*innenrechte - doch seit Napoleon III. haben
so gut wie alle Diktatoren ihren Totalitarismus mit Wahlen legitimieren wollen - und das in
ihrem Sinn erfolrgreich.
Wenn wir diese Gedanken erst einmal festhalten, kann man feststellen, dass die Grenzen
zwischen dem, was wir Rechtspopulisten nennen und rechtsextremistischen Gruppen
fließend sind. Neulich berichtete die Tagesschau von der Lega Nord als rechtsextremistisch,
dann wird sie mal wieder als populistisch gekennzeichnet. Die AfD sei rechtspopulistisch
und was ist die CSU? Was sind die cinque stele in Italien?
Soweit allgemeine überlegungen, ich komme am Schluss darauf zurück.
Rein in die Geschichte. Wir haben von Markus Weber über die Harzburger Front zwei
zentrale Dinge - neben vielen anderen wichtigen, die ich hier nicht wiederholen brauche -
erfahren.
- Es war ein Zusammenschluss von Demokratie- und Republikfeinden zwar
unterschiedlicher Radikalität, doch einig im Ziel: Ersetzung der demokratischen
Republik durch ein autoritäres, Volkstumshomogenität versprechendes Regime.
- Rechts- und nationalistisch ausgerichtete Parteien und Bewegungen des
bürgerlichen Lagers ordneten zugunsten dieses Ziels der nationalsozialistischen
Bewegung unter. Sowohl die Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932 und erst
recht die Hitlerkoalition vom Januar 1933 haben dies gezeigt.
Sieben Jahre nach Kriegsende kommt eine lokale sozialdemokratische Stimme angesichts
der politischen Lage im Jahr 1952 zu der Einschätzung: In einer in der GZ veröffentlichten
Stellungnahme "Goslars Kommunalwahlen stehen im Schatten von Karlsruhe" des SPDKreisverbandes
hieß es:
    |
"Die Kommunalwahlen 1952 stehen im Schatten von Karlsruhe. Die SRP ist tot;
inzwischen meldeten sich die Erben. Man findet im Goslarer Raum die unbelehrbaren
Vertreter von Hakenkreuz und ihre Nachfolgertrabanten an oftmals exponierten
Stellen der rechtsparteilichen Einheitsliste ebenso wie beim BHE. - Kritische
Menschen wollen darin eine deutliche Wiederbelebung der Harzburger Front mit all
ihren hässlichen Konsequenzen sehen. Trotzdem bleibt es unverständlich, dass
demokratische Parteien einem Mann mit der auf Effekthascherei abgestellten
Berufsbezeichnung 'Oberleutnant a. D. und Arbeiter' einen Platz auf ihrer
Kandidatenliste einräumen, obgleich von ihm offiziell bekannt ist, dass er
Vorsitzender der verbotenen SRP und in der 'Reichsfront' gewesen ist. Man scheint
sich der Hoffnung hinzugeben, dass die Menschen in Goslar das 1000jährige Reich
mit Krieg, Terror und all seinen schrecklichen Folgen bereits völlig vergessen haben."6
|
Was war geschehen?
Nach einigen Jahren relativer politischer Dominanz der CDU in der
Stadtverordnetenversammlung hatte sich zu den Kommunalwahlen 1952 ein
rechtsbürgerliches Bündnis einschließlich ehemaliger NS-Funktionäre, die Bürgerliche
Einheitsliste, zusammengefunden, um eine Majorität im Rathaus zu erlangen - und zwar
um durchzuregieren, die SPD zu marginalisieren.
Gemeindewahlen am 9. November 1952
Partei | Stimmen GS-Stadt | Sitze im Rat |
Bgl. Einheitsliste | 30.218; 51,5 % | 9 CDU, 2 FDP, 2 DP 4, parteilos 17 |
SPD | 18.104; 30,8 % | 10 |
BHE | 9.582; 16,3 % | 4 |
KPD | 723; 1,2 % | |
Innerhalb der bürgerlichen Einheitsliste erhielten die einzelnen Parteien folgende
Stimmenzahlen bzw. Stimmanteile
7:
DP | 5.722; 9,7 % |
CDU | 12.450; 21,2 % |
FDP | 5.561; 9,4 % |
Parteilos | 6.485; 11,0 % |
Die Wahlbeteiligung lag mit 74,4 Prozent erheblich höher als bei den letzten
Kommunalwahlen im November 1948. Nach dem Wahlmodus hatte jeder der 28.633
Wahlberechtigten drei Stimmen. Insgesamt wurden 58.684 Stimmen abgeben. Wenige
Wochen vor der Wahl war die SRP am 23.10.1952 vom Bundesverfassungsgericht verboten
worden und konnte damit nicht zur Wahl antreten. - Ich komme gleich darauf zurück - Die
über zweitausend Wähler, die ihr bei der Landtagswahl im Mai 1951 ihre Stimme gegeben
hatten, werden vorwiegend für die Einheitsliste votiert haben. Bemerkenswert sind die
erheblichen Stimmenverluste der DP gegenüber den vorherigen Wahlen wie die hohe
Stimmenzahl für die "Parteilosen", die jeweils die der FDP und DP übertrafen.
Die FDP nahm sich der Aufgabe an, führende städtische NS-Größen in die Kommunalpolitik
zu integrieren. Im August 1951 trat Senator a.D. Otto Schellknecht - aktiver Lokalpolitiker
schon zu Weimarer Zeiten - als örtlicher Parteivorsitzender zurück. Zum Nachfolger wurde
der Kaufmann Erich Link mit seinem Stellvertreter Hermann Mühlenberg, der sich
Bürgermeister zur Wiederverwendung titulieren ließ, gewählt.
Mühlenberg war von 1933 bis 1939 Stellvertreter von Heinrich Droste gewesen, danach in
kommunalen Spitzenpositionen in anderen Orten des Reichs tätig.
8
Am 9.1.1948 ausbritischer Internierung entlassen
9
kam er zurück nach Goslar. Andere Altnazis wie der
ehemalige Kreisleiter Franz Gothan, der ehemalige Vorsitzende des Haus- und
Grundbesitzervereins und 1933 Fraktionsvorsitzende der NSDAP Rechtsanwalt Karl Kappel
oder der ehemalige Rektor Hermann Wittneben fanden sich in der Partei ein, Droste wurde
ihr Spitzenkandidat zur Kommunalwahl. Schon bei den Landtagswahlen im Mai 1951 konnte
diese Partei dreieinhalb Mal mehr Stimmen (956) in der Stadt erzielen als bei der
Kommunalwahl im November 1948. Der FDP-Kreisverband stünde für "Rechtsstaatlichkeit,
Sauberkeit, Sparsamkeit", hieß es in einer Grundsatzerklärung der FDP zur Kommunalwahl.
Entsprechend trüge die Partei "durch die zweckmäßige Auswahl ihrer Kandidaten für eine
Zusammensetzung des Rates der Stadt Sorge, die geeignet ist, die dem Rat zufallenden
Selbstverwaltungsaufgaben korrekt zu lösen." Man wollte
    |
"in einem unbedingt fairen Wahlkampf um das Vertrauen bitten. [...] Mit allen ihren
Kandidaten stellt die FDP in allen drei Wahlbezirken Persönlichkeiten zur Wahl, die
bereit sind, als Träger persönlicher Verantwortung und Lauterkeit für das Wohl des
Ganzen zu handeln. [...] Es kann nicht unvergessen sein, dass es [Goslar, P.S.] in den
letzten Kriegstagen 1945 unter der persönlichen Initiative und hohen Verantwortung
eines langjährigen Goslarer Kommunalpolitikers und jetzigen FDP-Kandidaten
schicksalhaft vor dem Schlimmsten bewahrt geblieben ist."10
|
Droste, mit diesem letzten Satz wider die zeithistorische Wahrheit zum Helden der letzten
Kriegstage erklärt, "schilderte die Gründe, die ihn [als Oberbürgermeister a.D., P.S.]
bewogen haben, sich jetzt wieder der Kommunalpolitik zuzuwenden und seine Kenntnisse
und langjährigen Erfahrungen dem Gemeinwohl nutzbar zu machen."
11 Droste wurde dann
mit dem fünftbesten Ergebnis (1.415 Stimmen) aller Kandidaten der Einheitsliste in den Rat
gewählt."
12
Parteilose erfuhren eine besondere Zustimmung.
Aus dem allgemeinen Beschweigen der städtischen NS-Zeit in den ersten fünf Jahren nach
dem Krieg hatte sich eine Haltung der bewussten Integration von Nationalsozialsiten in die Stadtgesellschaft
entwickelt. Und im gleichen Prozess erfuhren die Sozialdemokraten, die eine Demokraitsierung der Stadtgesellschaft
erreichen wollten, ein déja vu. Sie waren jetzt diejenigen, die in einer sich wiedergefundenen
bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wurden.
Die SPD hatte mit ihrem Einwurf zur Harzburger Front so unrecht nicht. An den
Aktionsforderungen der DP, die als zweitstärkste Kraft in die Einheitsliste eintrat, lässt sich
deren deutschnationalistischer, volksgemeinschaftlicher und antimodernistische Kurs am
deutlichsten ablesen. Beschwörung des Christentums und der nationalen Ziele des
Deutschtums und dies auch mit Blick auf Goslar, denn ohne den "Wiederaufstieg
Deutschlands" wäre "Goslar zur Bedeutungslosigkeit verurteilt", standen bei ihr im Zentrum
der Wahlaussagen. Jugendliche müssten "körperlich und geistig ertüchtigt", die Familie
gefördert, die Kultur nicht von der Verwaltung behindert werden. Die Hinwendung zu
einem volksgemeinschaftlich orientierten Staatswesen, die einiges von sehnsuchtsvoller
Rückblende auf die zwölf Jahre NS-Diktatur enthielt, stand für die DP an oberer Stelle ihrer
Wahlreklame. Sie forderte die "Entwicklung einer Leistungsgemeinschaft zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Grundlage der Kameradschaft, damit Arbeitsfreude
und Schaffenskraft erhöht und eine verantwortliche Zusammenarbeit der Sozialpartner in
allen Sparten eines Betriebes erreicht wird."
13 Solche Töne waren nicht weit vom Geist des
Gesetzes über die Neuordnung der Deutschen Arbeit von 1934, entfernt. Ich will das hier
nicht weiter ausführen, in meinem Buch habe ich die entsprechenden ideologischen
Reminiszenzen an die Zeit vor 1933, die im Wesentlichen über die GZ transportiert wurden,
ziemlich ausführlich erörtert. Zudem hatte die GZ-Leitung zugesagt, dies Thema irgendwann
öffentlich zu erörtern.
Sich auf einen Konsens zu einigen, der Demokratie und Republik formal im Namen führte,
der aber in hohem Maße an einem Begriff dieser Werte, wie er von Rechts in Weimar
vertreten wurde, festhielt, wurde möglich durch das von der Adenauerregierung betriebene
Verbot der SRP, der Sozialistischen Reichspartei. Diese offen nazistische Organisation
sammelte massenhaft alte und neue Nazis hinter ihre Ziele. Die fast durchgängige
Ablehnung der Praxis der Entnazifizierung durch die Bevölkerung, der sich seit etwa
1946/47 steigernde Unmut gegen die Besatzungspolitik, die stets lauter werdenden
Forderungen gefangene und verurteilte NS-Funktionäre freizulassen hatten eine identitäre
nationale Grundstimmung erzeugt, von der die SRP profitierte. Wie Norbert Frei
formulierte: "In gewissen Weise erfuhr die nationalsozialistische Volksgemeinschaft damals
ihre sekundäre Bestätigung".
14
Ich will dazu nur wenige Beispiele geben:
Als das Frankfurter Institut für Sozialforschung in mehreren Mittelstädten der Republik - so
auch in Goslar - empirisch nach den Haltung der Deutschen zur Entnazifizierung forschte,
musste es feststellen, dass "von 176 Personen, die zur Entnazifizierung Stellung genommen
haben, [...] ihr nur sieben positiv gegenüber" stehen.
15 Für Goslar, für das uns die
Originalquellen (Interviews, Einschätzung des Forschers etc.) im Archiv zur Verfügung
stehen, fand sich 1 Stimme, die sich positiv geäußert hatte.
Oder ein international Furore machendes Beispiel: Im März 1950 vertrieb eine Gruppe von
Bundestagsabgeordneten, darunter Rudolf-Ernst Heiland und Herbert Wehner (beide SPD),
den SRP-Abgeordneten Wolfgang Hedler aus dem Ruheraum des Bundestages, weil die
SPDler der Meinung waren, das Hedler dort nichts zu suchen hätte. Auf der Flucht stürzte
Hedler und zog sich leichte Verletzungen zu.
Daraufhin schloss der Bundestagspräsident Erich Köhler Wehner und Heiland für zehn
beziehungsweise acht Sitzungstage von den Verhandlungen aus worauf hin die SPDFraktion,
gefolgt von den Kommunisten, demonstrativ den Saal, verließ. Was war der Grund
für diese Aktion?
Wolfgang Hedler, ehemaliges Mitglied der NSDAP und des Stahlhelm, hatte im November
1949 in Neumünster eine Rede gehalten, deren Inhalt wesentlich die rechtsextreme
Propagandaleier abspulte: Deutschland habe die geringste Schuld am Zweiten Weltkrieg
und die Widerständler des 20. Juli seien Landesverräter. Laut Notiz eines
Landtagsabgeordneten der SPD hatte Hedler zudem gesagt: "Ob die Mittel, die Juden zu
vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht
hätte es auch andere Wege gegeben sich ihrer zu entledigen".
16
Der gegen Hedler angestrengte Prozess endete am 15. Februar 1950 mit Freispruch. Die
deutsche Presse wertete das Urteil mehrheitlich als verfehlte Bewährungsprobe der
deutschen Justiz, in Kiel und Neumünster demonstrierten nach Aufruf des DGB 14.000
Menschen unter der Parole "Nie wieder Hitler, niemals Hedler".
17
Oder: Als sich die Sozialistische Reichspartei (SRP) mit ihren Gallionsfiguren Generalmajor
Ernst Otto Remer und Graf von Westarp in Goslar in Vorbereitung ihrer
Ortsverbandsgründungsversammlung am 31.1.1951 präsentierte, war der Saal voll - die
Berichterstattung wenig schmeichelhaft.
    |
"Remer sprach: Die Kundgebung der SRP in der 'Reichshalle' war außerordentlich
stark besucht, der Saal überfüllt. Der Name Remer hatte gezogen. Seitens der Polizei
waren alle Vorkehrungen getroffen, so gab es nur während der Diskussionsreden
einigen Spektakel. Zwischendurch erhob sich einmal ein penetranter Geruch.
Stinkbomben - Ein Blick in den Zuschauerraum belehrte über die politische
Zusammensetzung des Publikums: Unbelehrbare, Arbeitslose, Neugierige und die
anderen Parteien. Nach der kurzen Einführung des Herrn Müller (Bad Harzburg)
begann Remer: Die alte Platte schnarrte: Deutsche Männer und Frauen!
Einigermaßen bekannt. [...] Er sprach auch für ein geeintes Europa, das allerdings nur
unter deutscher Führung denkbar sei. Zum Schluss seiner Ausführungen nach der
Diskussion nahm Remer wie üblich Bezug auf seine Rolle bei der Niederwerfung des
Putsches vom 20. Juli. Vor die gleiche Entscheidung gestellt, sagte er, würde er genau
wieder so handeln. Die Rebellen seien moralisch minderwertige Leute gewesen und
ihr Verhalten Hoch- und Landesverrat. 'Ich hätte sie auch aufgeknüpft!"18
|
Wegen diesen letzten Satzes, in mehreren Variationen wiederholt, sollte Remer vom
Generalstaatsanwalt in Braunschweig Fritz Bauer im März 1952 angeklagt werden. Außer
Gegnern hatte Remer etliche politische Freunde in der Stadt. Auf einer Kundgebung der
FDP in der "Reichshalle" mit Hauptredner v. Manteuffel wurde dem Generalmajor a.D. "als
einzigem Diskussionsredner bereitwillig zwanzig Minuten Redezeit" eingeräumt.19 Die
Scheidelinien zwischen mehr oder minder offener nationalsozialistischer Propaganda und
nationalistisch-autoritärer Agitation sich demokratisch kleidender Parteien lösten sich
zunehmend auf.
Auf das Urteil im Remer-Prozess - Remer wurde im März 1952 wegen übler Nachrede in
Tateinheit mit der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu drei Monaten Gefängnis
verurteilt
20
- reagierte die örtliche veröffentlichte Meinung sehr bestimmt. Die GZ gab in
ihrer Berichterstattung zum Urteil die Begründung des Vorsitzenden Richters ausführlich
wieder.
    |
"In der Urteilsbegründung wurde weiter gerichtlich festgestellt, dass diese
diffamierenden Behauptungen [die Männer vom 20. Juli 1944 seien Verräter und
vom Ausland gesteuert, P.S.] nachweislich unwahr sind. [...] - NS-Staat war kein
Rechtsstaat - Demgegenüber stellte Vorsitzender Heppe klar heraus, dass diese
Männer einzig und allein deshalb gehandelt hätten, um schreiendes Unrecht wieder
gut zu machen. 'Wer allein in den Braunschweiger Schwurgerichtsverhandlungen
gegen Nazi-Verbrecher von all den Grausamkeiten gehört hat', so führte der
Vorsitzende weiter aus, 'die auf Geheiß der damaligen Regierung verübt worden sind,
der kann nur der Meinung sein, dass solche eine Regierung beseitigt werden musste.
Es ist schwer, bitter und hart für ein deutsches Gericht, so etwas aussprechen zu
müssen.' Das Gericht schließe sich darum der Staatsanwaltschaft in der Feststellung
an, dass der NS-Staat kein Rechts- sondern ein Unrechtsstaat gewesen sei."21
|
Mit der redaktionellen Hervorhebung der zentralen Urteilsaussage "NS-Staat war kein
Rechtsstaat" wird sich die Zeitung massiven Widerspruch eingehandelt haben, nicht nur
unter den 2.328 Goslarern, die bei der Landtagswahl zwei Monate später die SRP wählen
sollten. Dieser Satz fällte ein klares Urteil über die NS-Zeit: Sie war ein Unrechtssystem.
Damit stellte die richterliche Aussage das Handeln jedes einzelnen in dieser Zeit auf den
Prüfstand. Denn formal personenbezogene Entnazifizierung und juristische Ahndung von
offensichtlichen Verbrechen sind die eine Sache, der Umgang mit in der NS-Zeit
verbreiteten Ideologien und Weltbildern, die bis auf radikale übertreibungen nicht von den
Nationalsozialisten erfunden wurden, sondern im kulturellen Selbstverständnis vieler
Deutscher tief im Alltag und in der Politik verwurzelt waren, waren die andere Sache.
Entnazifizierung bei Bearbeitung von NS-Vergangenheit und politischer Alltag, politischer
Machtkampf in der sich rasch verändernden damaligen Gegenwart waren ebensolche zwei
Seiten einer Medaille.
Die erste, 1949 gewählte Bundesregierung Adenauer fand 1952 eine ihrer Politik gemäße
Antwort: Sie betrieb das Verbot der Sozialistischen Reichspartei. Am 19. November 1951
stellte die Bundesregierung den Antrag auf überprüfung der Verfassungsfeindlichkeit der
SRP, am 23. November den Antrag auf überprüfung der Verfassungsfeindlichkeit der KPD.
Adenauer setzte sich gegen Widerstände im Kabinett, Justizminister Dehler war gegen ein
Verbot, durch. Aktuellen Anlass bildete der Wahlerfolg der SRP bei den niedersächsischen
Landtagswahlen im November 1951. Die Partei errang 11% der Wählerstimmen, 16
Mandate, davon 4 direkte. Sehen wir vom Druck der Alliierten, namentlich des Hohen
Kommissars John McCloy, auf die Bundesregierung, dem Nazi-spuk endlich ein Ende zu
bereiten, weil sonst irgendwelche Lockerungen des Besatzungsstatuts aussichtslos wären,
gingen Adenauers Absichten, die dann vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom am
23. Oktober 1952 bestätigt wurden in eine bestimmte politische Richtung: Das
Verfassungsgericht begründete das Verbot wegen offenen Bezugnahme der SRP auf die
NSDAP.
Damit wurde höchstrichterlich ein formaler Schnitt gesetzt: Das offene Eintreten für NSIdeologie
und -politik wurde sanktioniert, es wurde als rechtsextremistisch gekennzeichnet.
Mit dieser politischen Definition galt also nur der Nationalsozialismus als
rechtsextremistisch. Wer sich gegen ihn abgrenzte, wurde mit offenen Armen in die
Gemeinschaft der Verfassungsfreunde aufgenommen.
Wir haben eben in Goslar gesehen wie das mit den NS-Funktionären ablief. In Bad Harzburg
erhielt der NS-Bürgermeister Berndt bei den Kommunalwahlen die meisten Stimmen, er
wurde zum Kurdirektor bestimmt. Ebendort im Hindenburgring richtete R. Walter Darré
sein Nachkriegsbüro ein - sein langjähriger Bauernführer-Adjudant v. Knobelsdorf stand
ihm zur Seite. Zu seinem Tod 1953 erging sich die Trauergemeinde in Elogen auf diesen
heimatverbundenen Bauernführer.
Etwas anders NS-Ministerpräsident Dietrich Klagges: Er führte nach seiner vorzeitigen
Haftentlassung 1957 in Bad Harzburg das gemütlich-umtriebige Leben eines Altnazis, er tat
sich als Verfasser nazistischer Schriften und Unterstützer aktiver Neonazis in Niedersachsen
hervor, blieb unbehelligt und konnte 1970 auf dem Klageweg noch eine beachtliche
Pensionsrückzahlung von 100.000 DM auf seinem Konto verbuchen.
Ich habe nun zeitlich ein wenig vorgegriffen, frage deshalb, wie es nach 1945 zu diesem
Umstand der Integration von Angehörigen nazistischer Funktionseliten und zu massiven
Wortmeldungen der Angehörigen bzw. Eleven der "konservativen Revolution" gekommen
ist.
Das hehre Ziel der Westalliierten, den Nazismus auszurotten, war gescheitert. Das Verbot
der NSDAP und ihrer Massenorganisationen, die Aufhebung von NS-Gesetzen, das Verbot
von Nachfolgeorganisationen, der Versuch, Verwaltung, Rechtsprechung und
Repräsentationsorgane von unten also von der Kommunalebene bis nach oben auf der
Länderebene und 1949 dem Bund zu demokratisieren und die massenhafte individuelle
Entnazifizierung waren Akte, den Leviathan das mythologische Ungeheuer, wie Franz
Neumann seine Analyse des NS-Regimes von 1942/44 nannte, an die Kette zu legen, ihm
zentrale Glieder auszureißen, ihm seine Brutalität und Gefährlichkeit zu nehmen: Aus den
Köpfen und Einstellungen vieler ließ er sich so nicht rasch vertreiben, vor allem ließen sich
Gedankengut und politische Einstellungen und Gefühlslagen der Harzburger Koalition nicht
so ohne weiteres auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgen.
Autoritäres Staats- und Politikgebaren überschatteten zarte Knospen demokratischen
Aufbruchs. Demokratische Verfahren verzettelten sich schnell im erneuten Ringen um
politische Herrschaft. Wer hatte es auch anderes gelernt? Weimar war gewiss kein
geeigneter übungsboden für Lektionen in gesellschaftlicher Partizipation und diskursiver
Ausbildung freien politischen Willens gewesen. Mit der von sehr vielen als nationale
Entwürdigung wahrgenommenen Kriegsniederlage 1945 war die einst so stolze und
geschichtsmächtige Volksgemeinschaft der Deutschen dem politischen Willen und dem
sozialen Vermögen der Siegermächte ausgeliefert. Einer gewissen Dankbarkeit den Briten
gegenüber, dass mit Krieg und Todesangst nun Schluss war, folgten rasch harsche
Beschwerden, dass man sich drangsaliert fühle: Die Stadtvertretung klagte die bevorzugte
Behandlung der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen an, für das zunehmende
Flüchtlingselend wurden die Alliierten verantwortlich gemacht - nicht die Kriegstreiber. Als
undemokratisch wurde die Einschränkung der Pressefreiheit durch die Briten angeprangert,
weil sie in Braunschweig eine durch einst vertriebene und verfolgte Redakteure gemachte
Zeitung erlaubte, doch "bürgerliche" Presseorgane verhindere. Die sich ab etwa Mitte 1946
stetig verschlechternde wirtschaftliche und soziale Lage wurde etwa aus Wirtschafts- und
bestimmten Parteikreisen, was in Goslar- und nicht nur hier - meist identisch war, der
angeblich staatssozialistischen Ideologie der Laborregierung in London angelastet, die eine
freie Marktwirtschaft verhindere. Dass die Briten selbst wegen des deutschen
Angriffskrieges am Existenzminimum knapsten, wie übrigens alle überfallenen Völker
Europas, wollte kaum einer zur Kenntnis nehmen.
Mit einem Wort: Die Volksgemeinschaft schloss sich nun ohne einen offenen Rassismus
zusammen, nicht ohne die für die Inklusion notwendigen Exklusionssubjekte gefunden zu
haben: Schwarzmarktprofiteure, was im Subtext Händlerjuden hieß, heimat- und
bindungslos Herumstreunende, zunehmend Kommunisten, kritische Intellektuelle und linke
Sozialdemokraten bis dahin, dass zur Bundestagswahl 1953 die Sozialdemokratie allgemein
als 5. Kolonne Moskaus bezeichnet wurde. Sie wurde aus dem sich bürgerlich nennenden
Lager angefeindet wie in den Hochzeiten Weimarer Sozialdemokratenhetze.
Die Einengung des Rechtsextremismusbegriffs auf das Eintreten für nationalsozialistische
Ziele, die Negierung der Tatsache, dass es sehr wohl, nationalistische, antisemitische,
fremdenfeindliche, rassistische, hochautoritäre Einstellungen gab, die in anderen Parteien
integrierbar waren, führte dazu, diese Einstellungen als verfassungskonform zu begreifen
und damit einer kritischen Befragung und begrifflichen Festlegung zu entziehen.
Als Ersatzbegriff für politische Richtungen jenseits des traditionellen, sich meist im
christlichen Gewande zeigenden Konservatismus wie ihn etwa CDU und CSU verkörpern,
wurde der Begriff des Rechtspopulismus erfunden. Die NDP galt und gilt in dieser Logik ab
1952 als rechtsextrem, die Stiefelnazis ebenso, die AfD aber nicht.
Dabei wissen wir sehr genau durch wissenschaftliche Arbeiten seit der Sinus-Studie von
1980, die Einstellungen und politische Verhaltensweisen jenseits von Parteizuschreibungen
erforscht haben und ermitteln, dass Einstellungen, die wir dezidiert als rechtsextrem
charakterisieren müssen - wie eben unvollständig aufgezählt - genau diejenigen sind, um
dessen Potenzial sich etwa die AFD bemüht.
Der Begriff Populismus allgemein kennzeichnet den Versuch, Einstellungen und Sprüche
von Teilen des Staatbürger*innenvolkes durch Zustimmung zu ihnen in Wahlkreuze und
andere politische Aktionen wie etwa Pegida-demos zu verwandeln. Das Aufgreifen von
rechtsextremistischen Einstellungen durch politische Parteien und Bewegungen, ihre
Verwandlung in politische Themen und Akte politischen Handelns sollen dann
rechtspopulistisch sein. Werden dann und damit plötzlich rechtsextreme Einstellungen
rechtspopulistisch? Wird aus Auszugrenzendem etwas Akzeptables, etwas weniger politisch
zu Verurteilendes? Oder was soll uns diese Form der Weichspülung sagen?
Wenn wir an der sehr engen auf den Nationalsozialismus begrenzten Begrifflichkeit von
Rechtsextremismus festhalten wollen, muss man tatsächlich für AfD, Front National, die
wahren Schweden, die österreichischen Freiheitlichen, Orban etc. einen anderen Begriff
finden. Doch schaut man sich deren Politik an: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit,
illiberal-demokratisch, gesellschaftspolitisch autoritär, freiheitsfeindlich, staatsautoritär -
Grundaussagen und -taten dieser Gruppierungen, wie soll man das anders als rechtsextrem
bezeichnen?
Wir haben mit unseren Blicken zurück auf rechtsnationalistische, staats- und
gesellschaftsautoritäre, völkische Bewegungen und Parteien, auf die Ahnen der heutigen
Rechten versucht, wesentliche Merkmale von deren Politik zu bestimmen.
Der Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit verdeutlicht zusammen mit unserem Wissen
um die Mühseligkeit und Dauer einer Demokratisierung der deutschen Bundesrepublik,
welchen Schatz an politischen Freiheitsrechten, an persönlichen Lebens- und
Entfaltungsmöglichkeiten sich diese Gesellschaft erkämpft hat. Die beteiligten
Generationen haben dabei der Gegenwart und der Zukunft einen hohen Preis aufgebürdet.
Indem die kapitalistische Weltökonomie diesen Modernisierungs- und Mobilitätsschub seit
den 1968er Jahren in ihr Markt- und Profikalkül integriert hat, wachsen soziale
Ungleichheit, stehen kollektive Bündnisse gegen die gesellschaftliche Allmacht des Kapitals
unter zunehmenden Druck - man denke nur daran, wie wenig gewählte
Repräsentativorgane dem Treiben von Zuckerberg und anderen, die sich für
Menschheitserlöser halten, entgegenhalten können -, lösen sich Bindungen in
individualistische Selbstoptimierungsstrategien auf.
"Alles verdampft..." hieß es im Kommunistischen Manifest über die Fähigkeit der
kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Gesellschaftsformationen, Traditionen zu
zerbrechen und Menschen zu bloßen Funktionselementen ihrer Wirtschaftsweise zu
degradieren. In den Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen seitdem haben Menschen
versucht, sich diesem Diktat zu widersetzen.
Die bittere Erfahrung der Geschichte ist allerdings, dass bis auf kurze Perioden der
Hoffnung, die regressiven, autoritären und totalitären Gegenbewegungen immer gesiegt
haben.
Noch schweben wir hier eigentlich auf einer Wolke der Seligkeit, doch die politischen Krisen
der demokratischen Republiken um uns herum und zunehmend auch bei uns, fordern zu
einem politischen Handeln, das ganz auf die Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte und
Freiheiten, auf die Verteidigung von Menschenwürde und Menschrecht ausgerichtet ist.
Sich an einem lauen Sommersamstag Stiefelnazis entgegenzustellen, ist Teil dieses
politischen Kampfes.
1 Dies ist die schriftliche und damit auch erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich am 24. Mai 2018
in Goslar im Rahmen der "Bunten Woche - Veranstaltungen in Goslar vom 3.5. bis 2.6.2018", vgl.
www.goslar-gegen-rechtsextremismus.de gehalten habe.
2 Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay, Berlin 2017, S. 88.
3 Ebd.
4 Schyga: Goslar 1945-1953. Hoffnung-Realitäten-Beharrung, Bielefeld 2017.
5 Ebd. S. 86 f.
6 GZ 6.11.1952. Es ist nicht eindeutig, wer in dieser Stellungnahme gemeint ist; wahrscheinlich war es
Freiherr v. Ledebur jun., Kandidat der DP und Aktivist des Nachkriegsstahlhelms.
7 Roßdeutscher: Wählerverhalten, S.335
8 Vgl. Schyga: Goslar: Von der nationalen Stadt, Bielefeld 1999, S. 135 f. sowie StAGS: RR IV/26/1.
9 StAWO: 3 Nds. 601.
10 GZ 5.11.1952.
11 GZ 6.11.1952.
12 GZ 10.11.1952 Wahlergebnisse.
13 GZ 5.11.1952.
14 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, München 2012, S.304
15 Dirks, Walter: Folgen der Entnazifizierung. Ihre Auswirkungen in den kleinen und mittleren
Gemeinden in den drei Westzonen. (1953) in Sociologica, Aufsätze: Max Horkheimer zum 60ten
Geburtstag, Frankfurt am Main 1955, S. 445-479
16 vgl. Frei: Vergangenheitspolitik: S.309.
17 Vgl. Grimm, Marc: Rechtsextremismus als Perspektive, in: Tagungsband: historischer und
gegenwärtiger Rechtsextremismus in Europa, Hannover 2018 pdf auf
www.netzwerkerinnerungundzukunft.de
Juni 2018
18 GZ 27.1.1951.
19 GZ 21.3.1951.
20 Zur juristischen und politischen Dimension dieses Prozesses vgl. Wojak: Fritz Bauer, insbes. S. 265ff.
GZ 17.03.1952
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