- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
20 Jahre Spurensuche Harzregion - Feier im Großen Heiligen Kreuz am 5. November 2018 - Rede von GZ-Redakteur Frank Heine
20 Jahre Spurensuche Harzregion
Feier im Großen Heiligen Kreuz am 5. November 2018
Rede von GZ-Redakteur Frank Heine
1. Zitat Anfang
"Heil Hitler, Heil Hitlermann", schrie der kleine Hamburger Junge am diesem 6.
Februar 1933, einem Montag, während Nationalsozialisten und feldgraue
Stahlhelm-Soldaten im Fackelschein an ihm vorbeimarschierten. Luise Solmitz,
eine Lehrerin, hatte sich schon eine halbe Stunde früher am Straßenrand
eingefunden, um dem Moment "nationaler Erhebung" beizuwohnen. Der
Wettergott hatte mitgespielt, es war trocken und windstill. Dann rauschten die
Braunhemden wie "Wellen im Meer" an ihr vorbei. Ein "prachtvoller Anblick"
sei dies gewesen, notierte sie in ihr Tagebuch, all die "phantastischen Baretts,
Stiefel u. Stulpen im zuckenden Licht der Fackeln, die Schläger, die Fahnen". Ein
Moment für die Ewigkeit: "Wir waren wie berauscht vor Begeisterung,
geblendet vom Licht der Fackeln gerade vor unsern Gesichtern u. immer in
ihrem Dunst, wie in einer süßen Wolke von Weihrauch. Und vor uns Männer,
Männer, Männer, braun, bunt, grau, braun, eine Flut."
Noch regierte in Hamburg ein sozialdemokratischer Bürgermeister, noch
kämpften in den Arbeitervierteln Sozialdemokraten und Kommunisten gegen
die immer selbstbewusster auftrumpfende SA. Und doch erlebte Luise Solmitz
bereits die ersten Tage der neuen, seit dem 30. Januar amtierenden Regierung
Adolf Hitler als betörenden Glücksrausch. Auf einmal schien alles möglich.
Endlich sprach einer wieder eine klare Sprache gegen allzu freche ausländische
Stimmen, endlich fand Deutschland mit Hitler wieder zu sich selbst, endlich
wurde die ersehnte Revision von "Versailles" angepackt. Hitler - das war für
Luise Solmitz der "Heiland" in "einer bösen, traurigen deutschen Welt", ein
Retter und Erlöser, "ein reiner, guter Mensch", der nur nicht von roten
Mörderhänden niedergestreckt werden dürfe. Wohl allen, die sich als Teil
dieser "mitreißenden, gewaltigen Volksbewegung" fühlen durften und mit in
die Parole einstimmen konnten - "Ein Volk, ein Reich, ein Führer"!
1. Zitat Ende
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Spurensucher, liebe interessierte und
kritische Begleiter der Arbeit des Vereins,
wir feiern heute Abend den 20. Spurensuche-Geburtstag. Ich habe deshalb ein
Geschenk mitgebracht. Ein Geschenk, das vielleicht ungewöhnlich ist, dafür
aber gar nicht teuer war. Ein Geschenk, das sich am Ende aber womöglich doch,
so hoffe ich wenigstens, als wertvoll erweist, weil es zum Nachdenken anregen
soll und Sie alle es weitertragen können. Gerade dies wäre mir wichtig, zumal
ich mit dem Geschenk fünf Ermunterungen, sogar Appelle verbinde.
Das Geschenk ist eine Geschichte. Eine kurze Geschichte über die Hamburger
Lehrerin und Nationalsozialistin Luise Solmitz. Ich habe die Geschichte im Band
des Augsburger Historikers Dietmar Süß gefunden. Das Buch heißt "Ein Volk,
ein Reich, ein Führer" und ist 2017 in der Reihe "Die Deutschen und der
Nationalsozialismus" erschienen.
Herausgeber ist der von mir hoch geschätzte Norbert Frei. Der Professor, der
jetzt in Jena lehrt, hat Mitte der 90er Jahre zur Vergangenheitspolitik in der ära
Adenauer promoviert und seitdem viel zum Dritten Reich gearbeitet und
veröffentlicht. Mehr muss ich in diesem Kreis wohl nicht über ihn erzählen.
Nur, dass er vorher in München einst auch eine Ausbildung zum Redakteur an
der Deutschen Journalistenschule absolviert hat. Historiker und Journalist - ein
wahrlich kaum zu toppender Ausbildungsmix, wie ich aus eigener Erfahrung
weiß.
Zurück zu Luise Solmitz und ihrer Geschichte. Warum gleich eine Geschichte?
Reicht nicht ein schicker Sinnspruch? Ein kluges Zitat aus der Feder eines
Menschen, dessen Namen jeder kennt? Für dessen tieferes Denken und wahre
Gedanken sich aber leider immer weniger interessieren? Zugegeben: Kleine
Schmankerl passen in launigen Reden immer. Die will ich heute aber nicht
halten. Ich muss Sie insofern enttäuschen. Ich habe mich bewusst dagegen
entschieden.
Eine Geschichte verlangt nämlich echte Aufmerksamkeit vom Publikum. Sie
wirkt sonst nicht. Also, Sie sind gefordert. Und ich langweile Sie gleich noch ein
Bisschen mehr, indem ich mich zum Lesen bekenne. Ja, ich lese noch ganze
Bücher. Aus Papier und auf dem E-Book. Das Medium ist - fast - egal. Teils
haben diese Bücher mehrere hundert Seiten und oft keine Bilder. Internet?
Eine Supersache. Ja, Wikipedia gehört auch zu meinem Berufsalltag. Aber mein
erster Appell heute Abend lautet: Bleiben Sie dort nicht stehen! Graben Sie
tiefer! Lesen Sie! Lesen Sie viel! Und denken Sie über das Gelesene möglichst
ausgiebig nach.
2. Zitat Anfang
Luise, geboren 1889, war keine Nationalsozialistin der ersten Stunde. Sie
stammte aus einer konservativ-bürgerlichen Kaufmannsfamilie und war mit
dem Maschinenbauingenieur und Berufssoldaten Friedrich Solmitz verheiratet.
Ihr Bruder Werner engagierte sich während der Weimarer Republik für die
linksliberale DDP, mit der auch Luise anfangs sympathisierte. Das Engagement
aber blieb ein kurzes Intermezzo - ihr politisches Herz schlug schwarz-weiß-rot.
So lebte das Hamburger Paar nicht reich, aber doch auskömmlich, auch nach
der Pensionierung von Friedrich Solmitz, der als Major ein Ruhegehalt bezog
und freiberuflich für Industrie und städtische Unternehmen arbeitete. Privat
bewegte sich die Familie Solmitz in soldatischen und völkischen Zirkeln. Schon
1930 hatte Luise das erste Mal NSDAP gewählt, war dann aber wieder zur
DNVP zurückgekehrt. Nun fühlte sie sich mitgerissen von Hitlers Aufruf, von
diesem "geniale(n) Mensch(en)", dessen Programm ganz das ihre war:
"Deutschland!".
2. Zitat Ende
Was ist eigentlich ein Nationalsozialist? Was ist eigentlich Deutschland? Was
Dietmar Süß schreibt, bietet reichlich Stoff zum Nachdenken.
Lieber Peter Schyga, als Sie mich irgendwann Anfang August gebeten haben,
einen Beitrag zu diesem Abend zu leisten, habe ich gerne zugesagt. Ich hatte
aber überhaupt keine Idee, wie dieser aussehen sollte. Ich habe deshalb
nachgefragt, was Sie sich denn so vorstellen. Ungefährer Auftrag: 20 Jahre
Spurensuche in Stadt und Region würdigen. Aber hieße das nicht, Eulen nach
Athen zu tragen? Gerade in diesem Kreis?
Wer weiß nicht von den Anfängen der Arbeit mit Forschungen zum Schicksal
der Zwangsarbeiter in Goslar? Wer hat nicht die Ausstellungen zur Harzburger
Front und zur Reichspogromnacht gesehen? Zum Nazi-Erntedankfest in Goslar
und auf dem Bückeberg? Wer hat noch nicht in die Schriftenreihe "Spuren
Harzer Zeitgeschichte" geschaut?
Klar, ich könnte noch viel mehr erzählen. über unsere ersten Begegnungen in
den 90ern, die von Wertschätzung und Vorbehalten gleichermaßen geprägt
waren. Das darf ich wohl so sagen. Sie arbeiteten höchst professionell, aber als
Hannoveraner in Goslar auch ungewohnt rücksichtslos. Mit meinem Kollegen
Heinz-Georg Breuer und mir haben Sie viel diskutiert und gestritten, als Sie die
Geschichte der Stadt Goslar zwischen 1918 und 1945 schrieben. Das Ergebnis
verdient allen Respekt. Auch wenn frei nach Tacitus zwar alles sine ira, aber
bisweilen doch cum studio passierte und passiert. Vielleicht nicht der
schlechteste Weg, wenn auch Historiker ab und zu deutlich an den Wert
demokratischer Prinzipien erinnern. Ohne Zorn, aber mit Herzblut.
Lieber Peter Schyga, in Wertungen und Bewertungen sind wir längst nicht
immer einer Meinung. Das wäre auch schlimm. Die Grundanliegen aber, die
auch und gerade im Verein Spurensuche mit Frank Jacobs, Friedhart Knolle,
Markus Weber und vielen anderen hochgehalten werden, unterschreibe ich
aber immer und an jeder Stelle: Vertraue nie dem ersten Eindruck! Hinterfrage
alles! Und schaue immer auf beide Seiten der Medaillen! Denn zwei Seiten sind
immer vorhanden. Und nicht zu vergessen: Einen Rand gibt es auch noch.
Geschichte ist keine Schwarz-Weiß-Handlung, sondern mit vielen Farben
gemalt. Ja, Geschichte ist bunt. Auch und gerade die deutsche Geschichte.
Aber, lieber Peter Schyga, ich würdige jetzt nicht weiter die ohne Zweifel
verdienstvolle Spurensuche-Arbeit, wie es Ihr Auftrag war. Sie kennen das
bestens. Sie tun auch längst nicht immer das, was Andere von Ihnen erwarten.
Zurück zu meiner Frage von eben: Was ist eigentlich ein Nationalsozialist? Oder
besser: Wann ist er einer? Was ist eigentlich Deutschland? Mein zweiter Appell
heute Abend lautet, auch wenn er der Harmonie vielleicht nicht förderlich ist:
Diskutieren Sie fleißig über diese Fragen. Ich bin sicher, jeder hier im Saal wird
eine sehr spezifische Antwort für sich finden. Ich hoffe aber, erst nach einer
längeren Pause des Nachdenkens.
3. Zitat Anfang
Der Nationalsozialismus forderte ein offenes Bekenntnis. Streng urteilte Luise
über alle, die im Frühling 1933 noch zögerten oder gar an Hitler zweifelten;
schlimmer nur waren all diejenigen, die abseitsgestanden hatten und sich nun
im Sog des Erfolgs in die nationalsozialistische Bewegung einschlichen - solche
Trittbrettfahrer und "Märzgefallenen" wie ihr eigener Bruder Werner. Er hatte
seit 1929 als Journalist für die Presseabteilung der Reichsregierung gearbeitet
und war trotz seiner politischen Vergangenheit in Goebbels`
Propagandaministerium weiterbeschäftigt worden - ein Skandal, wie Luise
fand, den sie selbst, trotz einer gewissen, der NSDAP-Auslandsabteilung zur
Kenntnis brachte. Einen solchen "Gesinnungslump" könne sie nicht mittragen,
das würde schließlich Hitler hintergehen. Bitter notierte sie: "Geltung u. Entgelt
für Zersetzung ist die Losung. Wie konnte Goebbels sich so täuschen lassen."
Nur der Zufall wollte es, dass ihre Briefabschriften an die Partei folgenlos
blieben und Werner nichts von der Denunziation seiner Schwester erfuhr.
Gegenüber dem Schicksal der politischen Linken war sie wenig zimperlich. Die
alten Demokraten waren für sie nur noch Lachnummern und die Kommunisten
Feinde, die kein besonderes Mitleid verdienten. Die Gewalt der Straße schien
für sie einzig von den "Roten" inszeniert - die Nationalsozialisten und SA-Trupps
waren in ihren Augen unschuldige Opfer, die sich allenfalls gegen die feigen
übergriffe zur Wehr setzten. Deutschland jedenfalls erlebte in ihren Augen
gerade eine "Revolution, ein(en) Staatsstreichvon rechts" - und sie und ihr
Mann empfanden "eine Riesenfreude", als sie am 8. März auf dem Rückweg
von einem Besuch am Rathaus vorbeikamen und aus dem "widerlichen" Platz
der Republik über Nacht der "Adolf-Hitler-Platz" geworden war.
3. Zitat Ende
Ja, die Journalisten - Trittbrettfahrer also. Gesinnungslump nennt Luise Solmitz
ihren Bruder. Nette Familie. Aber mir geht es eher um den Beruf. Wobei ich zur
Ehrenrettung dieses Berufes gleich zu Beginn anmerken muss, dass Bruder
Solmitz als Angestellter von Ministerium und Staat eben kein kritischer
Journalist war, sondern PR-Arbeiter und Schönschreiber. Solche Leute müssen
Ergebnisse verkaufen und hübsch verpacken, egal, wie deren Kern aussieht.
Das ist auch und vielleicht noch mehr heute so. Aus - Entschuldigung - Scheiße
Schokolade machen, sagt ein Kollege von mir immer.
Aber wie verhält es sich denn nun mit den Journalisten? Die vierte Macht im
Staat? Der Wahrheit und nur der Wahrheit verpflichtet? Fehler klar benennen
und anprangern? Gelungenes auch loben? Hehre Ansprüche. Wer wird denen
gerecht? Ich meine: Schon der ehrliche Versuch ehrt. Und wer heute Abend bis
hierher aufgepasst hat, weiß ja schon: Es gibt eben nicht nur diese eine
Wahrheit. Sie fassen sich jetzt bestimmt aber auch an den Kopf. Was erzählt
der Heine da? Welch wunderbare Ausrede dafür, dass alle etwas Verschiedenes
schreiben. Und zwar jeder, was er will? Wer soll das glauben?
Das soll niemand glauben. Das ist der Grund dafür, dass es in einer dem
Fairness-Prinzip verpflichteten Gesellschaft Pressefreiheit und Pressevielfalt
geben muss. Eine Meinung muss sich am Ende nämlich jeder selbst bilden.
Unbequem? Vielleicht. Aber Wissen und Bildung sind doch die Schätze einer
rohstoffarmen Nation wie Deutschland, die trotzdem Export-Weltmeister ist.
Weltmeister? Ein Titel, den es zu verteidigen gilt. Wie schwer das ist, der frage
bei Löw und Co. nach. Aber das nur am Rande.
Ich gebe zu: Es ist schwer zu verstehen, wenn zum Beispiel ein und dasselbe
Blatt erst fleißig "Refugees are welcome" auf Seite eins und überall propagiert,
um nur drei Jahre später für jede Messerattacke unter Missachtung jeder
Unschuldsvermutung sofort und beinahe genüsslich einen Flüchtlingstäter
präsentiert. Jahre davor waren übrigens die Griechen das Lieblingsfeindbild
dieser Publikation, die mit großen Buchstaben auf wichtig macht. Dass
Deutschland mit den Krediten an die Pleite-Hellenen zig Millionen verdient hat,
interessierte später deutlich weniger.
An dieser Stelle lautet mein dritter Appell: Prüfe deine Quellen! Was liest du
wo? Und wer hat es warum und wie geschrieben? In Deutschland gibt es
hervorragend arbeitende Journalisten. Tolle Zeitungen, die Probleme unter
verschiedenen Blickwinkeln angehen. Und es gibt starke und vor allem
verlässliche Zuarbeiter wie den Verein Spurensuche, auf deren Sachkenntnis
und Professionalität Journalisten angewiesen sind.
Kein Wunder, dass Angriffe auf Redaktionen nicht nur bei großen Revolutionen
ein in der Tat bewährtes Mittel sind, um kritische Geister mundtot zu machen.
Wer sich in der Gegenwart an solchen Mahnungen, an solchen Phantasien
ergötzt, der zeigt, welch Geistes Kind er ist. Aber bei Luise Solmitz ging es 1933
eben nicht nur um Journalisten und Denunziation. Es ging auch um linke
Feinde, verlachte Demokraten - und letztlich geht es immer auch um
Sündenböcke.
4. Zitat Anfang
War Luise Solmitz eine überzeugte Nationalsozialistin? Die Antwort scheint auf
den ersten Blick klar: Glaube an den "Erlöser" Hitler, nationalistischer
Chauvinismus, Kampf gegen die "Schmach von Versailles" und die Verachtung
der Demokratie. All das findet sich bei Luise Solmitz und vielen Deutschen in
diesen Momenten des Jahres 1933. Doch schon die Geschichte ihres Bruders
macht deutlich, dass die Mitarbeit für das Regime sehr unterschiedlich
motiviert sein konnte.
...
Auch Luise Solmitz` Lebensgeschichte ist weniger eindeutig, als man dies auf
den ersten Blick vermuten könnte. So groß ihre Begeisterung für den "Führer",
so verhalten, ja erschrocken war ihre Reaktion auf die antijüdischen AprilPogrome,
als SA und NSDAP zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen und
diejenigen bedrohten, die weiterhin bei ihren jüdischen Händlern einkaufen
wollten. Ja, sie sei von ihrem Vater antisemitisch erzogen und stehe dazu noch
heute, und sie könne gar nicht glauben, dass sie einmal mit den Juden
mitfühlen würde, aber, so ihr Selbstgespräch: "Ich hasse, hasse
Ungerechtigkeit." Die übergriffe seien ein "bitterböser Aprilscherz", der noch
lange fortwirken werde, die meisten Menschen könnten innerlich diesen
übergriffen nicht zustimmen. "Man schämte sich vor jedem bekleisterten
Geschäft u. vor jedem Juden (...)." Wie man mit den Juden umgehen solle,
spielte in ihren privaten Gesprächen eine zentrale Rolle, und sie hatte es sich
nicht nehmen lassen, trotz ihrer grundsätzlichen Unterstützung der
antijüdischen Politik bei ihrem alten jüdischen Kaufmann demonstrativ
einzukaufen. Und doch: Um die "für den Augenblick" verschwundenen
"Unterweltserscheinungen aus Ostgalizien" schien es ihr im gleichen Atemzug
nicht schade zu sein. An der Verdrängung jüdischer Lehrer hatte sie jedenfalls
nichts auszusetzen. Vorbehalte gegenüber offener Gewalt, gleichzeitig
Zustimmung zur Ausdehnung antisemitischer Gesetzgebung - das musste im
April 1933 kein Widerspruch sein.
4. Zitat Ende
Die Juden. Wer sind die Juden? Der brave, alte Kaufmann um die Ecke? Die
"Unterweltserscheinungen aus Ostgalizien"? Alles Juden. Wenn auch
untereiander oft gar nicht einig. Auf jeden Fall waren "die Juden" stets der
willkommene Sündenbock. Immer als Gruppe. Immer schuld an allem. Die
Juden.
Sündenböcke. Ein Phänomen, das zeitlos ist. Das auch heute gilt, nur unter
anderen Vorzeichen: Jeder kennt mindestens eine Ausnahme, auf die
Vorurteile, Meinungen und Einschätzungen nicht zutreffen. Der Syrer von
nebenan? Ein Messermann? Das kann nicht sein. Und trotzdem: Irgendwie
muss ja stimmen, was so viele sagen. Angeblich ganz genau wissen. Es ist fast
armselig, wie immer noch und heute wieder mehr denn je argumentiert wird.
Ein profanes Beispiel: Ich habe Anfang Oktober in österreich Urlaub gemacht.
Alm-Wandern macht Spaß. Man kommt mit so vielen unterschiedlichen
Menschen ins Gespräch. Ein Thüringer hat mich wirklich fasziniert. Ein Mann,
dessen Plautze ebenso dick war wie sein Mercedes, der auf dem
Ausgangsparkplatz zur Wanderung stand. Ein offenkundig ebenso erfolgreicher
wie lauter und mitteilungsfreudiger Geschäftsmann. Er wohnte im teuersten
Hotel des Ortes. Er ließ nichts als seine Meinung gelten und haute sich in
anderthalb Stunden vier halbe Liter Bier, drei Schnäpse sowie vier dicke Speckund
Wurstbrote rein. Sein Credo: Früher war alles besser. In der DDR, da
herrschte noch Recht und Ordnung. Meinungsfreiheit? Nicht so wichtig. Man
kann doch schließlich auch mal seine Klappe halten.
Aus der Geschichte lernen? Funktioniert das wirklich? Angesichts solcher
Beispiele sind in der Tat Zweifel erlaubt. Trotzdem lohnt sich das Bemühen, das
nimmermüde Kämpfen um humanistische Ideale. Um die Lehren der
Aufklärung. Um moderne Rechtsbegriffe.
Denn Schuld und Verdienst sind immer individuell. Und jeder Mensch kann
Verdienst und Schuld tragen. Goslars früherer Oberstadtdirektor Helmut
Schneider ist so ein Fall. Seine Auschwitz-Vorgeschichte haben die Goslarer
Honoratioren einst genau gekannt, als sie ihn einstellten. Schneiders Bemühen
um die deutsch-französische Freundschaft ist ebenfalls bekannt. Goslar und
Arcachon - zwei Städte wurden auf dieser Basis Partner, aus Feinden wurden
Freunde. Schneider: ein Mensch, zwei Facetten.
Die Spurensucher haben zu seiner Einordnung Erhellendes geleistet - und
letztlich Traditionen aufgenommen, die ein Hans Donald Cramer, vielleicht
auch durch ein quälendes Gewissen getrieben, einst mit seiner Geschichte der
Goslarer Juden begonnen hat. Und um es auch an dieser Stelle einmal deutlich
zu sagen: Ein FDP-Parteibuch macht aus einem Nazi-Oberbürgermeister, wie
Heinrich Droste in Goslar einer war, noch lange keinen überzeugten
Demokraten. Wenn er Anfang der 50er wieder in den Rat der Stadt einzog, darf
man sich heute schon einmal an den Kopf fassen.
Mein vierter Appell überrascht jetzt vielleicht. Er lautet: Handeln Sie deutsch!
In des Deutschen besten Sinne. Fleißig wie die Preußen, aufgeklärt wie Lessing,
tiefgründig wie Goethe. Vielleicht nicht so sehr wie dessen faustische
Gestalten, die in sein berühmtes Drama erster Teil hinein schwanken. Eher wie
der aufmüpfige Prometheus, der selbstbewusst göttliche Autoritäten in Frage
stellt und nur Zeit und Schicksal als allmächtige und ewige Herren anerkennt.
Ob diejenigen, die so gern und oft die deutsche Leitkultur im Munde führen,
dieses kulturelle Erbe überhaupt kennen, als dessen Verwalter Sie sich sehen?
5. Zitat Anfang
Ende Mai 1933 erschütterte die Familie Solmitz indes ein kleines Schreiben, das
ihre Tochter Gisela aus der Schule mitgebracht hatte und das eines der lange
gehüteten Familiengeheimnisse zu lüften drohte. Die Eltern sollten auf einem
Formular angeben, ob sie "arischer" Abstammung waren - eine Frage, die dem
Mädchen keinerlei Kopfzerbrechen machte, war sie doch eine, wie das ihre
Mutter notiert hatte, "Judenhasserin". Anders dagegen ihr Vater: Friedrich war,
was Luise wusste, aber niemals ausgesprochen hatte, das Kind jüdischer Eltern.
Als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges war er bisher von den wachsenden
Repressionen ausgenommen gewesen. Nun aber zwang ihn das Schreiben der
Schule zu einem Bekenntnis wider Willen - und zu einer existenziellen Krise: Ein
Offizier mit jüdischen Wurzeln, geprägt vom Selbsthass auf die eigene
Biografie; seine antisemitisch-nationalistische Frau, die sich ganz auf der Seite
des Regimes sah und selbst in den Sog antijüdischer Politik geraten sollte; eine
Tochter, die jetzt mit wachsender Stigmatisierung zu rechnen hatte, obwohl sie
noch wenige Wochen zuvor davon überzeugt gewesen war, sich niemals in
einen Juden verlieben zu können. Das Ehepaar Solmitz war verzweifelt, zumal
sich Friedrich nach einigem Nachdenken entschlossen hatte, als Soldat die
Wahrheit sagen zu müssen. Erschütternd fand Luise die Folgen nicht nur für sie,
sondern auch für ihre Tochter: "Ein Kind, so deutsch erzogen in Denken, Schrift,
Fremdwortvermeidung, so voll Anstand u. Ehrlichkeit, so voll von Vertrauen u.
Fröhlichkeit, - so von Glauben u. Begeisterung für Hitler u. das wird plötzlich
ausgestoßen aus einer Gemeinschaft in der es sich gleichberechtigt glaubte,
jedes Straßenkind ein Edelarier gegen es!"
5. Zitat Ende
Dumm gelaufen. Auf einmal steht Luise Solmitz auf der falschen Seite. Kann
passieren. Und jetzt? Wer wünscht sich schon, bei radikalen Regimen und
autoritären Machthabern plötzlich auf der anderen Seite zu stehen? Die
Perspektive wechselt dramatisch.
Im Kindesalter habe ich das alte Sprichwort gelernt: "Was du nicht willst, was
man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Eigentlich platt, aber so wahr. In
seiner positiven Form "Behandle andere so, wie du von Ihnen behandelt
werden willst" ist der Satz als regula aurea, die goldene Regel, bekannt. Ein
Grundsatz der praktischen Ethik, der sich in der Bibel etwa im Gebot der
Nächstenliebe widerspiegelt. Wer sich auf christliche Werte beruft, sollte dort
mal wieder nachblättern und Wissen auffrischen.
Die Seite wechseln. Vom Handelnden zum Behandelten. Ein Sprung, der sich in
verschiedenen Regierungsformen ganz unterschiedlich auswirken kann. Wer
wünscht sich da noch eine harte Hand, einen starken Staat? In der Demokratie
sind diese Rollen geregelt. Als Opposition und Minderheit behält man Rechte
und kann sie einklagen. Was soll das Schimpfen auf und das Verzweifeln an
Demokratie? Wer die jüngste Erhebung der Bertelsmann-Stiftung aus dem
Oktober liest, dem kommt das Gruseln. Nur weil nicht alle gleich zufrieden sind
und sein können, ist plötzlich alles schlecht? Mein fünfter und letzter Appell
lautet deshalb: Wechselt die Perspektiven! Wer sich stark, mächtig und im
Recht fühlt, schaue immer auch durch die Brille des Schwachen! Die Freiheit
des Andersdenkenden hat Rosa Luxemburg es einst so treffend genannt. Wenn
in einer Demokratie etwas zwickt und zwackt, gibt es immer eine Alternative.
Aber ob die Alternative wirklich immer gleich die beste Option ist?
Ich habe fertig. Fünf Appelle habe ich für den Abend angekündigt. Und ich habe
insofern Wort gehalten, auch wenn ich auf diesem Wege vielleicht doch Eulen
nach Athen getragen habe, weil Sie so oder so ähnlich ohnehin schon
unterwegs sind. Meine Bitte: Lassen Sie die Eulen fliegen, wenn Sie Ihnen
gefallen. Bringen Sie sie fleißig unter die Leute. Immer wieder. Augen auf statt
Flugverbot.
Bevor ich mich gleich davonmache und noch einmal aus Süß zitiere, mache ich
noch ein letztes Mal auf klug und bemühe den guten alten Heraklit. "Panta rei",
alles fließt, soll er vor gut 2500 Jahren gesagt haben. Oder anders formuliert:
Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, weil sowohl er als auch der
Fluss nicht mehr derselbe sind. Soll heißen: Nichts bleibt gleich, alles ändert
sich. Deshalb gilt: Die Richtung ist entscheidend. Wer heute mitsteuern will,
sollte deshalb nicht untertauchen, sondern bestenfalls mit allen Wassern
gewaschen sein.
6. Zitat Anfang
Bis dahin (November 1932) war die NSDAP, zunächst in den Ländern, dann
auch im Reich, von Wahlerfolg zu Wahlerfolg geeilt und hatte mehr
Wählerstimmen auf sich vereinen können, als es je eine andere Partei im Laufe
der Weimarer Republik vermocht hatte. Ihre Wähler stammten, anders als man
das lange vermutet hatte, keineswegs überdurchschnittlich aus dem Kreis der
gebeutelten Arbeitslosen; und auch die Jungwähler waren nicht für den
Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei verantwortlich. Die NSDAP vermochte es,
Wähler aus unterschiedlichen sozialen Schichten anzuziehen.
...
Ihr gelang es seit Ende der 1920er Jahre, das nationalistisch-protestantische
Milieu, das bislang nationalliberal oder deutschnational gewählt hatte,
aufzusaugen - ein Milieu, aus dem auch Luise Solmitz stammte. Schritt für
Schritt etablierte sich die NSDAP als Sprachrohr antiliberaler, antisozialistischer,
antiparlamentarischer Ressentiments und als Schutzpatronin des christlichnationalistischen
Deutschtums; sie knüpfte mit ihrer Sprache der
Demokratiekritik und des Antikapitalismus an regionale und berufsständische
Traditionen bürgerlich-konservativer Eliten an und eroberte so schon vor 1933
wichtige gesellschaftliche Räume: in den völkischen Kriegs- und
Heimatverbänden ebenso wie in den Turn- und Sportvereinen, den
Studentenverbindungen, Lehrerseminaren und Pfarrhaushalten. Gerade in
diesen bürgerlichen Kreisen, die als lokale Honoratioren den Ton angaben, galt
die NSDAP zunehmend als Option, die ein Ende der parlamentarischen
"Schwatzbuden" versprach.
6. Zitat Ende
Alle Zitate aus: Dietmar Süß, "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" - Die deutsche
Gesellschaft im Dritten Reich, C.H. Beck, München 2017
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|| 3330 Mal gelesen, zuletzt am 07.10.2024 um 13:01:09 |