- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Von Dora bis zum Bahnhof Oker - Teil 1
Margret Klinger, Joachim Neander, Dirk Schirmer, Firouz Vladi, Jens-Christian Wagner (Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion)
Friedhart Knolle, Frank Jacobs, Wolfgang Janz (Spurensuche Goslar e.V.)
Das Wegzeichenprojekt Westharz
und der Marsch des Lebens
Eine Spurensuche auf der Route der
Todesmärsche der Südharzer KZ-Häftlinge
vom April 1945 im Westharz und über das
Gedenken an ihre Leiden und Opfer
*
Internet-Kurzfassung des Originaltextes
Die sich des Vergangenen nicht erinnern,
sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben.
(George Augustin Nicolas de Santayana, 1863-1952)
1. Das Wegzeichenprojekt
Die Todesmärsche der Mittelbau-Lager
In den ersten Apriltagen des Jahres 1945 wurden allein im südlichen und westlichen Harzvorland aus dem KZ Mittelbau-Dora und seinen zahlreichen Außenlagern zwischen Osterode und Sangerhausen über 40.000 KZ-Häftlinge nach Nordwesten in Marsch gesetzt. Vier Wochen später, bei Kriegsende, waren gut ein Viertel davon tot: verhungert, verdurstet, erstickt, erschlagen, erschossen, bei lebendigem Leibe verbrannt oder an Krankheiten (vor allem an Typhus) gestorben. Nicht ohne Grund nannte der britische Historiker Gerald Reitlinger die KZ-Evakuierungen "das letzte und schlimmste der von den Nazis im Kriege begangenen Massenverbrechen."
Auf dem mit 34 km größten dieser Gewaltmärsche überquerten ca. 3.500 Häftlinge aus dem KZ Mittelbau-Dora am 8. April 1945 den Harz von Osterode nach Oker. Vier Tage vorher waren ca. 450 Häftlinge des KZ Gandersheim zu einem Marsch über Bad Grund und Clausthal-Zellerfeld in Richtung Wernigerode aufgebrochen, wo die überlebenden am 7. April ankamen. Wernigerode war auch das Ziel des Gewaltmarsches von 800 noch "gehfähigen" Häftlingen der 1.150 Mann umfassenden III. SS-Baubrigade. Diese waren am 6. April 1945 von den KZ-Außenlagern in Osterhagen, Nüxei und Mackenrode nach Wieda aufgebrochen; sie marschierten von dort am nächsten Tag nach Braunlage, nachdem noch in der Nacht in Wieda sechs Mann beim Einsturz der total überbelegten dreistöckigen Bettgestelle ums Leben gekommen waren. Sehr eindringlich werden Willkür, Qualen und Tod, denen die Häftlinge während der Märsche und Bahntransporte ausgesetzt waren, in mehreren gleich nach dem Kriege publizierten Erinnerungsberichten festgehalten: Aimé Bonifas, Albert van Dijk und Marcel Orset.
Die etwa 3.500 Häftlinge, die am 8. April 1945 über den Harz getrieben wurden, gehörten zum sogenannten "Letzten Transport" des Lagers Dora. Ein am Abend des 5. April 1945 aus etwa 50 Güterwaggons zusammengestellter Zug sollte die letzten 4.000 Insassen des Lagers Dora nach Neuengamme transportieren. Schon während der zweitägigen Fahrt von Nordhausen nach Osterode ermordeten die SS-Bewacher Dutzende von Häftlingen, so in Tettenborn und am Osteroder Südbahnhof. Dort endete der Eisenbahntransport, weil die Weiterfahrt nach einem Luftangriff auf den Bahnhof nicht mehr möglich war. Der Transportführer entschloss sich daher, die Gefangenen zu Fuß über den Harz zu treiben. Am frühen Morgen des 8. April 1945 ließ die SS am Osteroder Südbahnhof etwa 3.500 Häftlinge vor den Waggons antreten - etwa 400 "Marschunfähige" blieben zurück - und anschließend unter SS-Bewachung durch Osterode, Freiheit und Lerbach in Richtung Clausthal-Zellerfeld marschieren. Auf dem Weg wurden immer wieder Häftlinge, die nicht mehr mithalten konnten, von ihren Bewachern erschossen. Am Mittag des 8. April erreichten die ersten Marschgruppen Clausthal-Zellerfeld. In den Nachmittagsstunden schleppte sich die zwei Kilometer lange Marschkolonne durch die von Einheimischen gesäumten Straßen. Einzelne Deutsche machten zaghafte Versuche, den durstigen Häftlingen Wasser zu reichen, wurden von den Bewachern jedoch daran gehindert. Die Mehrheit verhielt sich distanziert-indifferent; manche - meist waren es die Jüngeren - zeigten den Häftlingen auch offenen Hass.
Nach Erreichen des Waldes am nördlichen Stadtrand von Clausthal-Zellerfeld erschoss die SS erneut Häftlinge, die am Ende ihrer Kräfte waren. Anschließend wurde die Kolonne über Schulenberg in das Okertal getrieben. Auch dabei schossen die Bewacher immer wieder Häftlinge nieder. Schließlich erreichten die überlebenden dieses Todesmarsches am späten Abend den Bahnhof in Oker. Dort wurden sie in Güterwaggons gepfercht. Nun schloss sich eine Irrfahrt durch die heutigen Bundesländer Sachsen-Anhalt und Brandenburg an, die am 14. April 1945 im KZ Ravensbrück endete. Auch dort blieben die noch Lebenden nicht lange, denn knapp zwei Wochen später wurde auch dieses Lager vor der Roten Armee geräumt. Für die Dora-Häftlinge bedeutete das den zweiten Todesmarsch, diesmal zu Fuß nach Nordwesten. Die überlebenden wurden Anfang Mai 1945 im westlichen Mecklenburg-Vorpommern von Amerikanern und Sowjets befreit.
Heute gehören Begriffe wie "Auschwitz" oder "Buchenwald" zur kollektiven Erinnerung. Von den Todesmärschen weiß man dagegen wenig. Von den Morden im diffusen "Osten" oder in den vermeintlich hinter Wäldern versteckten großen Konzentrationslagern nichts gewusst zu haben, konnte man sich leicht einreden. Die Tat wurde gleichsam exterritorialisiert. Die Todesmärsche fanden dagegen in aller öffentlichkeit statt, und gerade deshalb wurde die Erinnerung daran verdrängt, hätte sie doch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld bedeutet.
Mit dem Generationswechsel ist jedoch in den vergangenen Jahren ein Perspektivwechsel eingetreten. Den Erben der Tätergeneration wird nun langsam bewusst, was die NS-Verfolgten schon lange wissen: Die NS-Verbrechen fielen nicht aus dem Himmel, und sie befanden sich auch nicht im isolierten, gesellschaftslosen Raum. Sie gehörten spätestens im Krieg mit der Präsenz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und den Insassen von Hunderten von KZ-Außenlagern zum Kriegsalltag der deutschen Bevölkerung.
Die Erinnerung an die NS-Verbrechen und ihre Opfer wachzurufen und zur Auseinandersetzung mit diesem lange verdrängten Teil der Lokalgeschichte beizutragen, ist der Zweck des Wegzeichenprojektes. Diesen Sinn erfüllen die aufgestellten Gedenksteine jedoch nur, wenn sie dazu beitragen, dass wir gegenüber der heutigen Politik die Augen nicht verschließen und eine politische und moralische Haltung entwickeln, die rechtsextreme Gewalttaten zu verhindern hilft.
Während dieses Geschehen im Ostharz schon früh aufgearbeitet und an geeigneten Stätten mit Gedenkeinrichtungen dokumentiert wurde, so um Gardelegen und am Südharz im Kreis Nordhausen, sind die umfangreicheren Ereignisse und Verbrechen, die sich auf der niedersächsischen Harzseite abspielten, vergessen oder verdrängt worden. Es ist das Verdienst von Joachim Neander aus Clausthal-Zellerfeld, zusammen mit Schülern des Robert-Koch-Gymnasiums in Clausthal durch Archivrecherchen und Zeitzeugenbefragungen diese Ereignisse bis in erschütternde Details hinein recherchiert und im Rahmen einer Dissertation (NEANDER 1997) publiziert zu haben. Dr. Joachim Neander erhielt dafür 1998 den Kulturpreis des Regionalverbandes Harz e.V.
Projektbeteiligte und Unterstützer
Den Anstoß zum Wegzeichenprojekt Westharz gab der Wunsch ehemaliger Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora, durch Gedenksteine an die Fußmärsche im Rahmen der Lagerauflösung zu erinnern. Diesen Wunsch trugen sie 1999 an die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und die Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion heran. Die Arbeitsgemeinschaft nahm den Wunsch in Kooperation mit den Berufsbildenden Schulen (BBS) im Landkreis Osterode auf. Die Einbeziehung von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen wurde von Vertretern der ehemaligen Häftlinge aus den Südharzer KZ-Lagern in der Sitzung des Häftlingsbeirates am 3.10.1999 ausdrücklich begrüßt.
Zur pädagogischen Zielsetzung
Das BBS-Projekt bietet die Möglichkeit der Revision des politischen und historischen Unterrichts im Sinne einer Verwirklichung des ganzheitlichen Ansatzes (kognitive, sozio-affektive und psychomotorische Ziele). Mit seiner Hilfe können die Schüler/-innen Regionalgeschichte entdecken und selbsttätig den Spuren der Vergangenheit nachgehen. Die über die Faktenvermittlung hinaus beabsichtigte Betroffenheit soll Verständnis wecken, politisches Interesse hervorrufen und Wege politischer Beteiligung zeigen. Insgesamt steht das Projekt im Kontext handlungsorientierten Unterrichts. Besonders wertvoll sind die Kontakte mit Zeitzeugen, insbesondere den überlebenden der Todesmärsche und der Konzentrationslager. Dieses Modell zeigt neue Wege der Zusammenarbeit auf. Neben der öffnung der Schulen gegenüber dem Geschehen in der Region sollen Erfahrungen in der Kooperation mit außerschulischen Partnern gesammelt werden.
Die Stelen
Es werden ca. 20 Stelen zur Markierung folgender Marschstrecken im Westharz aufgestellt: Osterode - Clausthal-Zellerfeld - Oker, Wieda - Braunlage und Gandersheim - Münchehof - Bad Grund - Clausthal-Zellerfeld - Braunlage. Bei den Stelen handelt es sich um von den BBS Osterode im Rahmen des Unterrichts hergestellte Betonprismen mit dreieckiger Grundfläche, oben angeschrägt, mit 90 cm Höhe und 25 cm Seitenstärke. Auf den beiden der Straße zugewandten Seiten befindet sich ein Dreieck als Symbol der farbigen Häftlingskennzeichnungen auf der KZ-Kleidung, der sog. "Winkel", darunter steht "April 1945", auf der anderen Seite "Todesmarsch".
Als Aufstellungsorte wurden unter wissenschaftlicher Betreuung von Dr. Joachim Neander überwiegend Stellen besonderer Vorkommnisse (meist Erschießungen) ausgewählt. Da die Todesmärsche über öffentliche Straßen führten, folgt das Gedenken notwendigerweise diesen Spuren; die Stelen müssen von den Straßen aus wahrgenommen werden können. Die Standorte wurden unter Berücksichtigung von Verkehrssicherheit und Straßenunterhaltung ausgewählt.
Die erste Stele zur Erinnerung an den Todesmarsch Osterode - Oker wurde am 11. Juli 2000 in Anwesenheit überlebender Häftlinge durch den Osteroder Landrat Bernhard Reuter mit großer öffentlicher Beteiligung eingeweiht. Sie steht auf einem Rasenstreifen oberhalb des Osteroder Ortsteils Freiheit. Nach Passieren des Ortes ermordete die SS hier einen französischen Häftling.
Zur Einweihung eingeladen wurde von den Schülern und Schülerinnen der BBS I und II Osterode. Dr. Joachim Neander sprach über die Evakuierung der KZ gegen Kriegsende als letztem NS-Massenverbrechen. Auch die ehemaligen Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora, Leopold F. Claessens aus Belgien, Max Dutillieux aus Frankreich und Ewald Hanstein aus Bremen, waren gekommen, um bei der Gedenkfeier zu sprechen und im Anschluss in ausführlichen Gesprächen Schülern und Schülerinnen über Erlebtes zu berichten.
Eine weitere öffentliche Steleneinweihung erfolgte am 24. September 2000 im Rahmen der Buchpräsentation "Zwangsarbeit im Raketentunnel - Geschichte des Lagers Dora" des ehemaligen Häftlings und französischen Historikers André Sellier, veranstaltet durch die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und den Verband der französischen Deportierten "Amicale des Déportés à Dora-Ellrich, Harzungen et Kommandos Annexes" unter Schirmherrschaft des Deutsch-Französischen Kulturrates.
Hierbei wurden eine Stele vor der Kirche in Clausthal zur Erinnerung an den Marsch von Osterode nach Oker aufgestellt und eine weitere Stele vor der Zellerfelder Kirche zur Erinnerung an die übernachtung der Gandersheimer Häftlinge in der Kirche; es war eine Kooperation von Schülern der Robert-Koch-Schule mit den Berufsbildenden Schulen Osterode. Der Autor André Sellier und andere Deportierte des KZ Mittelbau-Dora nahmen an der Gedenkveranstaltung ebenso teil wie Angehörige, Freunde und Schüler/-innen aus Worbis und Eupe. Dr. Jens-Christian Wagner , Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion und Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald, beschrieb die Todesmärsche aus der Sicht des Historikers, während André Sellier von seinen persönlichen Erinnerungen an den Marsch durch Clausthal-Zellerfeld berichtete. Im Anschluss an die Vorträge fand eine von Schülern/-innen der BBS Osterode und Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion zusammengestellte Ausstellung zum EXPO-Projekt Spurensuche und den Todesmärschen im Westharz reges Interesse.
Am 23. April 2001, etwa am 56. Jahrestag des Todesmarsches, wurde eine Gedenkstätte mit Stele am Bahnhof Oker der öffentlichkeit übergeben. Hier waren noch zwei polnische Häftlinge ums Leben gekommen; sie fanden später auf dem Goslarer Friedhof "Hildesheimer Straße" ihre letzte Ruhestätte.
Am Totensonntag, den 25. November 2001 wurde die Gedenkstele an der ev.-luth. Trinitatis-Kirche in Braunlage unter aktiver Mitwirkung der Kirchengemeinde eingeweiht.
Erleben und Nachvollziehen
Die Todesmarsch-Stelen sprechen nicht unmittelbar für sich. Man wird sie entlang der Straßen im Harz vereinzelt entdecken; ein räumlicher oder historischer Zusammenhang erschließt sich dabei noch nicht. Auch muss vermieden werden, dass die Stelen zum Halten z.B. an gefährlichen Kurven einladen. Deshalb soll der Hintergrund in Textform verfügbar gemacht werden, insbesondere als Faltblatt, im Internet auf den Seiten der Harzer Spurensuche-Gruppen, mit Hilfe von Erläuterungstafeln an wenigen ausgewählten Standorten und letztlich mit einer Tafel an der Fassade des Bahnhofes Oker, dem Endpunkt der "Großen Harzüberquerung". Die Texterstellung in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion soll Teil des politischen bzw. historischen Unterrichts an den BBS in Osterode sein.
Nachsatz
"Ich spreche frei von Haß. Ich hege gegen niemanden den Wunsch nach Rache. Ich gebe nur zu bedenken, daß die Anführer und Befehlsgeber ihr Handwerk nicht hätten ausführen können, wenn sie nicht die aktive Unterstützung von so vielen gehabt hätten. Vieles war öffentlich - wie man die Verhafteten aus den Wohnungen holte, was hier in Nordhausen getrieben wurde, oder die Transporte in Vieh- und Kohlewaggons, die ja offen waren. Erlaubt mir, daß ich meine verstörten Gedanken der Gegenwart zuwende und einige Folgerungen zu formulieren versuche. Da wir doch genauer als viele, viele andere wissen, was Todesängste sind, meine ich, daß wir eine Verpflichtung haben, in diese Welt zu schreien. Never again! Nie wieder! Auch wissen wir, daß wir viel zu schwach sind, die bestialische Brutalität, mit der sich Menschen allerorts verfolgen, zu mildern. Dennoch haben wir zumindest die Pflicht, wo immer es möglich ist, lautstark das fünfte Gebot anzumahnen: Du sollst nicht töten!" (SALZ 2000).
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