- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Von Dora bis zum Bahnhof Oker - Teil 2
Margret Klinger, Joachim Neander, Dirk Schirmer, Firouz Vladi, Jens-Christian Wagner (Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion)
Friedhart Knolle, Frank Jacobs, Wolfgang Janz (Spurensuche Goslar e.V.)
Das Wegzeichenprojekt Westharz
und der Marsch des Lebens
Eine Spurensuche auf der Route der
Todesmärsche der Südharzer KZ-Häftlinge
vom April 1945 im Westharz und über das
Gedenken an ihre Leiden und Opfer
*
Internet-Kurzfassung des Originaltextes
Die sich des Vergangenen nicht erinnern,
sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben.
(George Augustin Nicolas de Santayana, 1863-1952)
2. Die KZ-Evakuierung zu Kriegsende - das letzte NS-Massenverbrechen
Rede anläßlich der Steleneinweihung in Osterode-Freiheit am 11. Juli 2000
Bei den Rückzugsbewegungen der deutschen Truppen wurden - etwa ab Mitte 1944 - auch die Konzentrationslager geräumt, Personal und Insassen in vom Gegner noch nicht unmittelbar bedrohtes Gebiet verbracht. Warum eigentlich? Warum verließ die SS nicht einfach die Lager und überließ die Häftlinge ihrem Schicksal - was in der Tat, zumal in den letzten Kriegswochen, gelegentlich vorkam? Oder warum sprengte sie die Lager nicht mitsamt den Insassen in die Luft - was Hitler nach einer viel zitierten Quelle befohlen haben soll, was aber nirgendwo stattfand?
Wir kommen der Antwort ein Stück näher, wenn wir uns die Doppelfunktion des KZ im NS-Herrschaftsapparat gegen Kriegsende vergegenwärtigen. Das KZ war zwar immer noch in erster Linie Terrorinstrument gegen bestimmte, von der NS-Ideologie ausgegrenzte Menschengruppen sowie Systemgegner, aber zugleich auch eines der letzten größeren Reservoire an Arbeitskräften für die deutsche Rüstungswirtschaft und - in den Wunschvorstellungen der NS-Führung - für den geplanten Wiederaufbau Deutschlands nach Kriegsende. Eine wichtige Rolle spielten zudem die KZ-Häftlinge in den letzten beiden Monaten des Krieges bei Himmlers Geheimverhandlungen mit den Alliierten über einen separaten Waffenstillstand.
Aber nur Häftlinge, die sich im Gewahrsam der SS befanden, konnten in der Rüstung, als Faustpfand bei Verhandlungen mit dem Gegner oder gar für den Wiederaufbau Deutschlands eingesetzt werden. Daher war die Führungsetage der SS nicht daran interessiert, die Lagerinsassen allesamt umzubringen oder sie gar ohne "Gegenleistung" dem Feind zu überlassen, sondern sich mit dem Instrument der Märsche möglichst lange den Zugriff zumindest auf diejenigen Häftlinge zu erhalten, die noch halbwegs bei Kräften waren und als Arbeiter oder Geiseln geeignet erschienen. Diese Strategie kam aber auch dem Interesse der SS an der Basis, in den Lagern, entgegen, bei KZ innerhalb Deutschlands auch dem Interesse von Partei und Betrieben sowie der Bevölkerung, die alle die "Kazettler" so schnell wie möglich loswerden wollten.
Für die Räumung eines KZ hatte sich bis Ende 1944 ein bestimmter Typus vom Ablauf in drei Phasen herausgebildet: Vorbereitungen, Abmarsch des gesamten Lagers - bis auf die Schwerkranken, die zuweilen an Ort und Stelle getötet, meist aber sich selbst überlassen in den Krankenbaracken zurückblieben - und "Kontrolle" durch ein "Nachkommando" aus einigen SS-Leuten und Funktionshäftlingen. Häufig, vor allem bei den Lagern im Osten, kamen nach dem Abzug des "Nachkommandos" noch Trupps der Waffen-SS oder Wehrmacht und ermordeten die zurückgelassenen Häftlinge. Den endgültigen Schlusspunkt unter die Existenz des Lagers setzte erst seine Befreiung durch Truppen der Anti-Hitler-Koalition.
Der Ausmarsch des Lagers war zugleich der Anfang einer neuen Phase im "Evakuierungsprozess". Es begann der "Transport", wie es im SS-Jargon hieß, das Verbringen der Häftlinge in ein vom Gegner noch nicht unmittelbar bedrohtes Gebiet. Was sich dabei abspielte, besonders in den Monaten März und April 1945, wird in der Literatur durchgängig als "chaotischer", "irrationaler" Prozess beschrieben. So haben es die überlebenden der Transporte empfunden, und ihre Sichtweise ist von der Fachwelt weitgehend und ungeprüft übernommen worden.
Dabei erklärt sich schon ein Teil des vermeintlichen "Chaos" durch die zahlreichen Fehler bei Orts- und Zeitangaben, die sich in den Erlebnisberichten überlebender sowie in den Akten der Ermittlungsverfahren finden, die alliierte und deutsche Justizbehörden nach Kriegsende wegen der zahlreichen, bei den Evakuierungen begangenen Gewaltverbrechen eingeleitet hatten. Zum Eindruck des "Chaotischen" hat ferner beigetragen, dass die Transporte oft umgeleitet werden mussten (etwa infolge von Luftangriffen), oder dass sich bei Fußmärschen durch Aufspaltung und Zusammenschlüsse eine Vielzahl von Routenvarianten ergaben.
Vor allem wird übersehen, dass das für die KZ zuständige "Zentralamt" D I in Oranienburg bei Berlin bis zur letzten Minute bemüht war, das Evakuierungsgeschehen im Griff zu behalten. Bis Ende April 1945 wurden detaillierte Evakuierungspläne für die Lager aufgestellt, und während der Evakuierungen hatte jeder Transportführer mindestens einmal täglich bei D I telefonisch Bericht zu erstatten und Anweisungen entgegenzunehmen. Das galt auf jeden Fall für die größeren Transporte (mit einigen hundert bis mehreren tausend Teilnehmern) und begrenzte deutlich den Entscheidungsspielraum der Transportführer. Lassen Sie uns daher Abschied nehmen von der "Chaos-Theorie" und akzeptieren, dass die Evakuierung der Konzentrationslager ein durchaus strukturierter Prozess mit eigener Logik war (die es zum Teil noch zu entschlüsseln gilt).
Für den "Transport" benutzte die SS - schon aus Bewachungsgründen - mit Vorliebe die Bahn. Die Häftlinge wurden zu achtzig bis gelegentlich weit über einhundert Mann in ungeheizte, zuweilen sogar offene Güterwaggons gepfercht. Während der mehrere Tage dauernden Fahrt erhielten sie selten, oft gar nicht, etwas zu essen oder zu trinken, und in der Regel gab es nicht einmal einen Abortkübel im Waggon. Die Wachen postierten sich im Bremserhäuschen oder in der Nähe der Tür (bei geschlossenen Waggons) bzw. in den vier Ecken (bei offenen Waggons).
In den Waggons herrschte eine drangvolle Enge. Die bis zur Reglosigkeit Zusammengepressten kämpften um jeden Liter Luft zum Atmen, um jeden Quadratdezimeter Platz zum Ausruhen. Ein makabres Nullsummenspiel: Was der eine hinzu gewann, wurde einem anderen in gleichem Maße fortgenommen. Wo es den politisch Bewussten unter den Häftlingen nicht gelungen war, die Disziplin - die ja auch immer Selbstdisziplin war und dem Selbsterhalt des Häftlings diente - auch unter den erschwerten Bedingungen eines Transports aufrechtzuerhalten, richteten sich die Aggressionen der Häftlinge oft auch gegeneinander: Stärkere erschlugen Schwächere, Nichtjuden trampelten Juden tot. Auch manch verhasster Kapo wurde nachts heimlich erwürgt.
Hunger, Durst und Durchfall forderten im Verein mit Luftmangel in den geschlossenen - mit Kälte in den offenen - Waggons unzählige Opfer unter den Häftlingen, ließen sie oft den letzten Rest an Selbstachtung verlieren, rissen Tabuschranken nieder. So verrichteten Durchfallkranke ihre Notdurft mitten im Wagen, ins Essgeschirr, ließen den Kot auf die Kameraden fallen, und Durstige tranken in ihrer Qual nicht nur verschmutztes Wasser, sondern sogar den eigenen Urin. Und wer starb, starb einsam im "KZ auf Rädern". Denn das Abgestumpftsein gegen den alltäglichen Tod war Teil des seelischen Schutzpanzers, ohne den ein überleben im Lager nicht möglich war.
Viele Tote gingen auf das Konto von Willkürakten der SS, die oft aus nichtigem Anlass Häftlinge während der Fahrt erschoss. Immer wieder versuchten auch einige, auf einer der zahlreichen Langsamfahrstrecken aus dem fahrenden Zug zu springen und zu flüchten. Nur wenige hatten Glück dabei. Die meisten starben im Kugelhagel der Wachposten, ehe sie eine Deckung erreichten. Wenn der Zug hielt, sprangen die Wachen herunter und stellten sich als Postenkette auf. Ein Verlassen der Waggons war den Häftlingen in der Regel nicht erlaubt. Auch in den seltenen Fällen, in denen sie für eine Weile aussteigen durften, mussten sie dicht am Zug bleiben. Mancher von ihnen hat den Versuch, aus einem nahegelegenen Bach oder Teich seinen Durst zu stillen, mit dem Leben bezahlt.
Eisenbahnzüge waren im Frühjahr 1945 ein beliebtes Ziel alliierter Jagdbomberangriffe geworden. Dabei gab es viele Tote unter den Häftlingen, denn KZ-Transporte waren nicht besonders gekennzeichnet und sahen von weitem wie normale Güterzüge aus. Während der Luftangriffe versuchten Häftlinge oft zu flüchten. Nur wenige hatten dabei Glück. Viele wurden noch in der Nähe des Zuges von den Wachen erschossen. Auf diejenigen, die entkommen konnten, machten SS, Hitlerjugend und "Volkssturm" gnadenlos Jagd. So markierten Tote neben den Gleisen die Spur der Evakuierungszüge. Die Leichen der unterwegs Gestorbenen wurden vielfach in einem eigens für diesen Zweck bestimmten Waggon gesammelt, gelegentlich ausgeladen und in einem Massengrab verscharrt. Oft warf man sie aber einfach während der Fahrt aus dem Waggon, wie zum Beispiel bei den Evakuierungstransporten aus Auschwitz im Januar 1945.
Nicht immer und an jedem Ort ließen sich jedoch die Evakuierungstransporte mit der Bahn oder einem anderen geschlossenen Transportmittel (Schiff, LKW) durchführen. Dann musste zu Fuß marschiert werden, was die SS nur sehr ungern tat. Denn zum einen bestand das Wachpersonal zu dieser Zeit überwiegend aus älteren Männern, die kaum noch die Kondition für tagelange Fußmärsche hatten. Das waren oft ehemalige Soldaten, die für den KZ-Wachdienst abkommandiert und der SS eingegliedert worden waren.
Vor allem aber war das Konzentrationslager von seiner Konzeption her eine "geschlossene Anstalt" mit klar definierten Grenzen: sozialen Grenzen im Binnenverhältnis zwischen Personal und Insassen, räumlichen Grenzen im Außenverhältnis zwischen Lager und Außenwelt. Beide Grenzziehungen ließen sich bei einem Fußmarsch nur schwer aufrechterhalten, zumal wenn dieser mehrere Tage dauerte, durch unübersichtliches Gelände führte und einem der Feind ständig auf den Fersen war.
So wurden die Binnengrenzen bei Fußmärschen oft durchlässig. Bewacher, ebenfalls von den Strapazen des Marsches erschöpft, und Häftlinge urinierten einträchtig nebeneinander in den Straßengraben, und Häftlinge halfen SS-Leuten beim Tragen der Rucksäcke gegen Zigaretten und Brot. Zum Problem für die SS wurde aber vor allem die Sicherung der Grenze nach außen. Die Marschkolonne war das "KZ auf Wanderschaft". Nicht mehr der Stacheldraht, ortsfest verankert und sichtbar, markierte die Grenze zwischen Innen und Außen, sondern der wandernde unsichtbare Linienzug, mit dem man sich die SS-Wachmänner der Postenkette rund um die einzelnen Marschblöcke verbunden denken musste. Auch die Marschblöcke selbst, oft mehrere hundert Meter voneinander entfernt, waren nicht mehr physisch miteinander verbunden, wie etwa die Waggons eines Transportzuges durch die stählernen Kupplungen.
Aber auf Fußmärschen war das Lager nicht nur in seiner Form (als geschlossene Anstalt) gefährdet, sondern auch in seiner Existenz. Denn der Gegner, vor dem man sich auf der Flucht befand, drückte aufs Tempo. Daher auch die gnadenlose Antreiberei. Es gibt wohl keinen Bericht überlebender, in dem nicht erwähnt würde, dass die SS jeden Häftling erschoss, der aus Erschöpfung nicht mehr weiter konnte. Daher auch der Name "Todesmärsche", den die Häftlinge diesen Transporten zu Fuß gaben. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob es für diese Tötungen Befehle von höherer Stelle gab, ob die SS-Männer auf generelle Anweisung eines Lagerkommandanten handelten oder aus eigenem Antrieb.
Offizielle Weisungen sahen sogar eine durchaus humane Behandlung der "ausfallenden Marschierer" vor, etwa sie zu sammeln und auf Schlitten oder Pferdewagen dem Fußtransport hinterher zu schicken. Auch sollen einzelne Lagerführer ausdrücklich verboten haben, Häftlinge zu erschießen. Nur half das dem vor Schwäche zusammengebrochenen Häftling wenig. Er hinderte den Transport am zügigen Vorankommen, bedrohte dadurch die Sicherheit jedes einzelnen SS-Mannes und hatte damit in der Kriegslogik des "Er oder Ich" sein Leben verwirkt.
Wie bei den Bahntransporten, waren auch auf den Fußmärschen Hunger und Durst, Schmerzen und Kälte die ständigen Begleiter der Häftlinge. Auch hier erschoss die SS scheinbar wahllos einzelne Gefangene. Und immer wieder wird von Massentötungen berichtet. So etwa bei Palmnicken in Ostpreußen Ende Januar 1945, wo mehrere Tausend jüdische KZ-Häftlinge, überwiegend Frauen, ins Meer getrieben und erschossen wurden, oder bei Gardelegen in der Altmark, wo in der Nacht des 13. April 1945 in einer großen Feldscheune über tausend Häftlinge bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Nur jeweils eine Handvoll überlebte diese Massaker.
Auf allen Evakuierungsmärschen machten sich Auflösungstendenzen bemerkbar. Vor allem im April 1945 kam es häufig vor, dass sich größere Marschkolonnen teilten und getrennte Wege nahmen oder dass sich kleinere Gruppen einer größeren Marschsäule anschlossen. Nicht wenige Häftlinge, vor allem Deutsche, aber auch Tschechen und Polen mit guten deutschen Sprachkenntnissen, passten eine Aufmerksamkeitslücke ihrer Bewacher ab, um zu fliehen, oftmals mit Erfolg. Auch SS-Personal und "belastete" Funktionshäftlinge nutzten günstige Gelegenheiten, einzeln oder in kleinen Gruppen den Transport zu verlassen und in Zivilkleidung unterzutauchen.
Zuweilen entstanden auch innerhalb der SS Spannungen, Streitigkeiten, ja sogar etwas wie eine Meuterei, eine Situation, die geistesgegenwärtige Häftlinge zur Flucht auszunutzen wussten. Andere flohen im Schutze der Dunkelheit und versteckten sich, vornehmlich in den einsamen Waldgebieten Norddeutschlands.
Wenn sie Glück hatten und nicht von der SS, von deutschen Soldaten oder Zivilisten aufgegriffen wurden - was in der Regel ihren Tod bedeutete - konnten sie sich solange verbergen, bis sie von alliierten oder sowjetischen Truppen befreit wurden.
Das Verhalten der deutschen Zivilbevölkerung gegenüber Häftlingen auf Evakuierungstransporten hing stark von der Situation ab, in der man einander begegnete. Grundsätzlich sahen die Deutschen, verhetzt durch die NS-Propaganda, in den Insassen der Konzentrationslager höchst gefährliche Verbrecher. Dort, wo die SS die Häftlinge auf Distanz hielt, etwa beim Halt eines Transportzugs auf einem Unterwegsbahnhof, brauchte sich der "brave, anständige Deutsche", wie er sich so gern von seinem "Führer" titulieren ließ, nicht zu fürchten. Seine übliche Reaktion war Gleichgültigkeit: Man nahm mit den Augen wahr, hatte aber nichts gesehen; zumindest haben es die Häftlinge so empfunden. Waren jedoch Häftlinge aus einem Transport geflohen, so beteiligte sich die Zivilbevölkerung, Männer, Frauen, Kinder, eifrig an den zynisch "Hasenjagd" genannten Mordaktionen.
Die meisten Begegnungen zwischen Häftlingen und der Zivilbevölkerung ergaben sich auf den Todesmärschen, die durch Hunderte kleiner und großer Städte und Dörfer kamen, deren Augenzeugen Hunderttausende deutscher Bürgerinnen und Bürger wurden. Es ist auffällig, wie unterschiedlich deren Reaktionen den jeweils Beteiligten in Erinnerung geblieben sind. Von deutscher Seite wird durchgängig das berichtet, was unter Historikern "die Legende vom Butterbrot" genannt wird: Man habe Mitleid mit den Gefangenen empfunden und versucht, wo es nur irgend möglich gewesen sei, ihnen Wasser zu geben und Brot oder Kartoffeln zum Essen zuzustecken, und das stets unter erheblichem persönlichen Risiko.
Die ehemaligen Häftlinge haben meist anderes in Erinnerung. Das Spektrum berichteten Verhaltens reicht von brutaler Aggression bis zu stumpfer Gleichgültigkeit, und nur sehr selten wird von Hilfsbereitschaft erzählt. Wie es der israelische Historiker Shmuel Krakowski, überlebender von Auschwitz, formuliert hat: "Es stimmt, es gab Ausnahmen [...] Aber diese waren so selten, dass sie nur den Beweis dafür liefern, dass es wirklich Möglichkeiten gab, Menschenleben zu retten, wenn die Deutschen nur mehr Zivilcourage und menschliches Empfinden gezeigt hätten und weniger Loyalität zum Naziregime - und wäre es nur während der letzten Wochen und Tage des Krieges gewesen."
Der Transport als "KZ auf Rädern" bzw. "auf Wanderschaft" unterstand bis zur Ankunft im Aufnahmelager weiterhin der Befehlsgewalt des Kommandanten des abgebenden bzw. in Auflösung befindlichen Lagers. Er und die höheren Chargen der Lager-SS kümmerten sich jedoch unterwegs in der Regel nicht um den Transport selbst. Man fuhr in privaten oder lagereigenen Kraftwagen vor, hinter oder neben dem Transport her, wenn man es nicht vorgezogen hatte, sich samt Fahrzeug "abzusetzen", wie etwa Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz und danach von Mittelbau-Dora, bei den Evakuierungen dieser Lager.
Die Befehlsgewalt über den Transport hatte der Lagerkommandant in der Regel an einen seiner SS-Führer oder Unterführer delegiert, den er zum "Transportführer" ernannt hatte. Mit dem Eintreffen im Aufnahmelager ging die Befehlsgewalt über Häftlinge und SS-Personal auf den Kommandanten des aufnehmenden Lagers über. Für die Häftlinge bedeutete das unter anderem, dass sie sich erneut der entwürdigenden Aufnahmeprozedur zu unterziehen hatten und neue Häftlingsnummern erhielten. Die Neuzugänge wurden bis etwa Mitte April 1945 unverzüglich zum Arbeitseinsatz eingeteilt bzw. an Außenkommandos weitergeleitet. Tote, die mit den Transporten ankamen, wurden gar nicht erst registriert.
War bei einem Transport zu Fuß damit zu rechnen, dass in Kürze ein gegnerischer Truppenverband die Marschkolonne einholen würde, so pflegte die SS die Flucht zu ergreifen, wobei sie manchmal noch ein letztes Blutbad unter den Häftlingen anrichtete. Meist machte sie sich aber heimlich aus dem Staube, ohne die Häftlinge weiter zu behelligen. Zuweilen löste auch ein Transportführer wegen der Aussichtslosigkeit der militärischen Lage den ganzen Transport auf eigene Verantwortung auf und stellte sogar den Häftlingen Entlassungsscheine aus. Es dauerte dann in der Regel nicht mehr lange, bis die ersten amerikanischen oder sowjetischen Panzer erschienen und den Häftlingen ihre Befreiung brachten.
Der Historiker Martin Broszat hat geschätzt, dass von den ca. 720.000 Häftlingen, die sich Mitte Januar 1945 in den KZs befanden, ein Drittel das Kriegsende nicht erlebte oder kurz darauf an den Folgen der KZ-Haft verstarb. Diese Schätzung hat auch im Lichte neuerer Forschungen Bestand. Etwa drei Viertel dieser Toten, also rund 180.000 Mann, dürften dabei auf das Konto der Lagerevakuierungen gehen.
Mag auch einem Außenstehenden das hektische Hin- und Herschieben der Häftlinge von Lager zu Lager, das scheinbar ziellose Umherfahren und -marschieren im immer rascher schrumpfenden Rest des einstigen "Großdeutschen Reiches" als "so irrsinnig wie nutzlos", "ohne irgend einen vernünftigen Grund" erscheinen: Der SS der Konzentrationslager half es, sie vor dem Frontdienst zu bewahren und sich durch rechtzeitiges "Untertauchen" der gerechten Strafe für ihre Verbrechen zu entziehen. Nicht mehr als etwa vier Prozent aller SS-Leute, die in Konzentrationslagern Dienst getan hatten, wurden nach Kriegsende vor Gericht gestellt, und die meisten dieser Verfahren, vor allem die vor (west-)deutschen Gerichten, endeten mit Einstellung oder Freispruch.
Dr. phil. Joachim Neander, freier Mitarbeiter des Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oswiecimiu, Kraków, Polen
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