- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Arbeiten für Großdeutschland - Teil 9
Stadtarchiv Bad Lauterberg
KptLt a.D. Helmut Lüder
Familien, Geburten und Eheschließungen
Die Gesamtzahl der in Bad Lauterberg gemeldeten, bzw. zeitweilig gemeldeten Ausländer der Jahre 1939 - 1946 bestand nicht nur aus arbeitenden Personen, sondern auch aus Kindern und teilweise (allerdings selten) nichtarbeitenden Angehörigen. Es ist mit den Quellen des Stadtarchivs allerdings nicht möglich, eindeutig festzustellen, ob diese Familienmitglieder auch alle hier wohnten. Bei den italienischen Arbeitern sind vielfach auf den Meldekarten auch Angehörige (Ehefrau und Kinder) vermerkt. Ob diese Familienangehörigen tatsächlich in Bad Lauterberg oder in den umliegenden Ortschaften Barbis, Bartolfelde und Osterhagen anwesend waren und hier lebten, ist nicht zu erkennen. Italienische Familienangehörige wurden daher in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt. Es steht jedoch fest, daß in den Bad Lauterberger Arbeitslagern und Unterkünften Kinder und auch Ehepartner lebten, die nicht in den Arbeitsprozess mit einbezogen waren.
In Bad Lauterberg selbst sind in den Jahren 1942 - 1945 33 Geburten von ausländischen Kindern, die ihren Wohnsitz in Bad Lauterberg hatten, im Standesamt vermerkt worden.
Von 1939 bis 1941 sind keine Geburten ausländischer Kinder standesamtlich registriert. Bei der Anwerbung von ausländischen Arbeiterinnen galt Schwangerschaft als Ausschlußgrund und führte zur umgehenden Rückführung in die Heimatländer. Diese Praxis wurde bei nichtsowjetischen und nichtpolnischen Arbeiterinnen auch nach 1942 beibehalten, solange Arbeitsmarkt und Kriegslage dieses zuließen.
Das Jahr 1942 brachte mit Beginn des verstärkten Einsatzes von Polinnen und Ostarbeiterinnen, bei gleichzeitig verschlechterter militärischer Lage, eine Wende in der Behandlung von sowjetischen und polnischen Schwangeren. Unter dem Hinweis auf die schwierigen Transportverhältnisse und unter Berücksichtigung der zu erwartenden Arbeitskraftausfälle wurde am 15.12.1942 ein generelles Verbot der Rückführung von schwangeren Ostarbeiterinnen in ihre Heimat erlassen
69. Dieses Verbot wurde im März 1943 nochmals verlängert und bis Kriegsende beibehalten.
Zeitgleich wurden Anordnungen für die Behandlung von ausländischen Schwangeren und ihren Kindern durch die Regierung erlassen. Westarbeiterinnen und Angehörige mit Deutschland (zunächst) verbündeter Staaten wurden während der Schwangerschaft deutschen Frauen hinsichtlich Versorgung und Rechten gleichgestellt, für sowjetische und polnische Frauen wurde ein besonderes einschränkendes Regelwerk
70 angeordnet
Polinnen und Ostarbeiterinnen erhielten Mutterschutz in Form eines Mindestschutzes, der Arbeitsunfähigkeit bzw. leichtere Arbeit zwei Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt vorsah.
Entbindungen sollten grundsätzlich in den Krankenbaracken der Firmen stattfinden, auf dem Land war die Betreuung der Schwangeren und ihrer Säuglinge während und nach der Geburt durch ältere Ostarbeiterinnen einzuführen.
Bezugsscheine für ausländische Kinder waren auf die Hälfte der Ration zu begrenzen, die deutschen Kindern zustand.
Stillende Polinnen und Ostarbeiterinnen bzw. Wöchnerinnen wurden Ernährungszulagen, die andere Westarbeiterinnen oder deutsche Frauen bekamen, verwehrt.
Alle ausländischen Säuglinge sollten die gleiche Ernährung bekommen wie deutsche Kinder, bei Ostarbeitern war jedoch eine Verringerung der Milchration auf einen halben Liter Vollmilch pro Tag vorgesehen. Zum Stillen waren Gelegenheiten in den Betrieben zu schaffen.
Die Betreuung von ausländischen Kindern und Neugeborenen war durch die Betriebe zu organisieren. Eine Zusammenlegung sowjetischer und polnischer Kinder in deutschen Kindergärten oder Horten war untersagt. Für die Kosten der Kinderbetreuung hatten die Firmen aufzukommen, denen dafür eine Verminderung der Ostarbeiterabgabe um 0,75 RM pro Kind gewährt wurde.
Die zu schaffenden Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder sollten einfachster Art sein, eine Betreuung sollte ausschließlich durch Angehörige des jeweiligen Volkstums erfolgen.
Inwieweit dieser Erlaß in Bad Lauterberg umgesetzt wurde, ist heute nicht mehr feststellbar. Ausländische Arbeiterinnen mit der Berufsangabe "Kindergärtnerin oder artverwandte Berufe" sind in der Meldekartei nicht vermerkt. Jedoch kann die Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen sowie die Bereitstellung von Betreuungspersonal für Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen auch nicht ausgeschlossen werden; die zahlreichen sowjetischen und polnischen Geburten ab 1943 machen dieses Problem deutlich. Diese Kinder müssen in den Lagern betreut worden sein, denn zahlreiche Sterbefälle, insgesamt 23 Kinder, weisen darauf hin, daß die Kinder mit ihren Eltern/Müttern in den Lagern gelebt haben. Die Betreuung sogenannter "germanischer" Kinder niederländischer und flämischer Eltern konnte hingegen gemeinsam mit deutschen Kindern erfolgen
71.
Eine Verschickung von Kindern in speziell für sowjetische oder polnische Kinder vorgesehene Kinderheime
72, wie sie in anderen Gebieten Deutschlands nachgewiesen und auch praktiziert wurde, gab es vermutlich in Bad Lauterberg nicht. Eine Anweisung des Landesarbeitsamtes Niedersachsen
73 von 1943/44 sah sogar ausdrücklich vor, Ausländerinnen nicht von ihren Kindern zu trennen. Gleiches gilt auch für die ab Mai 1944 in einem Briefwechsel zwischen der Universität Göttingen und dem Gauarbeitsamt Südhannover-Braunschweig geplanten Einweisungen schwangerer Ostarbeiterinnen in ein Göttinger Lager für die Unterrichtung von Studenten und Hebammen, als sogenannte "Hausschwangere".
Die Einhaltung des Erlasses über die Lebensmittel- und Bekleidungsversorgung ausländischer Kinder läßt sich mit den im Stadtarchiv vorhandenen Quellen nicht nachvollziehen. Anhand einer Auswertung des Geburtsregisters des Bad Lauterberger Standesamtes ist es eindeutig, daß die Säuglingssterblichkeit bei sowjetischen und polnischen Kindern erheblich über der von deutschen Kindern lag.
Mit den Schwangerschaften stellt sich auch die Frage nach Abtreibungen, die normalerweise im Deutschen Reich streng verboten waren. Im März 1943 wurde eine Anordnung
74 des Reichs- gesundheitsführers erlassen, daß auf Wunsch die Möglichkeit auf Abtreibung bei schwangeren Ostarbeiterinnen besteht. Die tatsächliche Durchführung von Abtreibungen sowjetischer Kinder in Bad Lauterberg kann durch keine Quellenangabe des Stadtarchivs belegt werden.
Weniger beachtet wurde, daß Ausländer - vor allem Polen und Ostarbeiter - untereinander oder mit deutschen Partnern in den Standesämtern Bad Lauterberg, Barbis und Bartolfelde standesamtlich getraut wurden. In den Jahren 1939 bis 1945 waren es immerhin 37 Eheschließungen in Bad Lauterberg, 9 Eheschließungen in Barbis und 9 Eheschließungen in Bartolfelde. In den standesamtlichen Unterlagen von Osterhagen ist keine Eheschließung von Ausländern in diesen Jahren vermerkt.
Die Ostarbeiter unterlagen grundsätzlich keiner rechtlichen Diskriminierung bezüglich der Eheschließung, was auch durch eine Verordnung des Reichsministers für Justiz vom August 1943 bestätigt wird. Bei Ostarbeitern wurde auf die Beibringung des in Deutschland üblichen Ehefähigkeitszeugnisses verzichtet
75. Anders war es bei den Polen, die aus dem Generalgouvernement kamen und jenen, die aus den von Deutschland anektierten polnischen Gebieten kamen, den sogenannten Schutzangehörigen. Diese Schutzangehörige hatten bei der Eheschließung Altersbeschränkungen zu beachten. Sie durften erst nach Erreichen eines Mindestalters von 28 Jahren bei Männern, bzw. 25 Jahren bei Frauen, heiraten
76. Polen aus dem Generalgouvernement war die Heirat in Deutschland untersagt, ihnen durfte auch kein Heiratsurlaub gewährt werden, um eine Ehe im Generalgouvernement zu schließen
77. Die geringe Zahl der Eheschließungen in den Jahren 1939 bis 1944 dürfte - außerhalb des Einflusses ideologischer oder gesetzlicher Grenzen - mit organisatorischen Problemen bei der Beschaffung der notwendigen persönlichen Dokumente zusammenhängen.
Die vielen Eheschließungen im Jahr 1945 sind vermutlich Reaktionen auf die ungewisse politische und wirtschaftliche Lage, über den Verbleib der einzelnen Paare in ihren Heimatländern. Die Rückführung der Menschen hatte begonnen und niemand der aus Osteuropa stammenden Displaced Persons konnte abschätzen ob man zusammenbleiben konnte und wie man in seiner Heimat wieder aufgenommen würde. Für die Westarbeiter traf dieses alles nicht zu.
Die Tabelle 9 listet die Eheschließungen in der Kernstadt und den einzelnen Ortsteilen nach Jahren und Nationalitäten auf. Die Zahl der ehelichen Verbindungen beträgt ca. 1,2 % der Gesamtzahl der gemeldeten Ausländer. Sie ist relativ gering in Anbetracht der überwiegend jungen Menschen im heiratsfähigen Alter.
Tabelle 9
Bad Lauterberg (Kernstadt) (1939 - 1945)
Jahr | beteiligte Nationalitäten (Mann - Frau) |
1940 | Protektorat Böhmen und Mähren - Deutschland |
1941 | Protektorat Böhmen und Mähren - Deutschland |
1942 | Protektorat Böhmen und Mähren - Deutschland |
1943 | Polen - Volksdeutsche |
1945 | Rumänien - Rumänien |
1945 | Belgien - Deutschland |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Italien - Russland |
1945 | Italien - Russland |
1945 | Niederlande - Deutschland |
1945 | Italien - Deutschland |
1945 | Polen - Russland |
1945 | Rumänien - Niederlande |
1945 | Russland - Russland |
1945 | Italien - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Italien - Litauen |
1945 | Belgien - Deutschland |
1945 | Italien - Russland |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Niederlande - Deutschland |
1945 | Italien - Polen |
1945 | Italien - Polen |
1945 | Italien - Polen |
1945 | Italien - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Deutschland - Polen |
1945 | Rumänien - Deutschland |
1945 | Staatenlos - staatenlos |
1945 | Tschechoslowakei - Deutschland |
Barbis (1939 - 1945)
Jahr | beteiligte Nationalitäten (Mann - Frau) |
1939 | Deutschland - Polen |
1940 | Protektorat Böhmen und Mähren - Deutschland |
1942 | Deutschland - Protektorat Böhmen und Mähren |
1943 | Polen - Deutschland |
1945 | Italien - Deutschland |
1945 | Russland - Russland |
1945 | Russland - Russland |
1945 | Russland - Russland |
1945 | Russland - Russland |
Bartolfelde (1939 - 1945)
Jahr | beteiligte Nationalitäten (Mann - Frau) |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Russland |
1945 | Polen - Deutschland |
1945 | Polen - Deutschland |
1945 | Polen - Deutschland |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
1945 | Polen - Polen |
Es ist bemerkenswert, daß Ehen trotz aller Hindernisse, die vorhanden waren, geschlossen wurden. Unklar bleibt allerdings, ob es sich bei den Paaren, die vor 1945 heirateten, umbesonders privilegierte Personen gehandelt hat.
Fußnoten
69 HSA Hannover, Hann. 122a XII Nr. 3346
70 SA Wolfenbüttel, 129 Neu Fb. 2 Nr. 4455
71 SA Wolfenbüttel, 129 Neu FB. 2 Nr. 4455
72 Vgl. für Braunschweig Vogel, Entbindungsheim.
73 SA Wolfenbüttel, 129 Neu Fb. 2 Nr. 4455
74 SA Wolfenbüttel, 12 Neu 13 Nr. 1730
75 Zeitschrift für das Standesamtswesen, 23, 1943, P. 91
76 Zeitschrift für das Standesamtswesen, 24, 1944, P. 9-10
77 SA Wolfenbüttel, 12 Neu 13 Nr. 15744.
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