- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
NS-Zwangsarbeitslager im Westharzgebiet - ein verdrängtes Stück Industrie- und Heimatgeschichte- Teil 1
Im Harz gab es während des Dritten Reiches eine Vielzahl von Rüstungsbetrieben und kriegswichtigen Zulieferbetrieben. Prädestiniert durch seine strategisch-geografisch günstige Lage in der Mitte des Deutschen Reiches ("Mittelraum"), das vor Kriegsbeginn brachliegende industrieerfahrene Arbeitskräftepotential dieser Region und nicht zuletzt die guten Tarnungsmöglichkeiten für die neuen Rüstungsbetriebe entwickelte sich im Harzgebiet und Harzvorland ein Schwerpunkt der nationalsozialistischen Rüstungsproduktion.
Allein im Bereich der heutigen Landkreise Göttingen, Holzminden, Osterode, Goslar und Northeim arbeiteten während des 2. Weltkrieges über 140 Betriebe an knapp 40 Standorten für die Rüstungsindustrie. Etwa ein Viertel dieser Firmen stellten chemische Vorprodukte oder Sprengstoffe her. Im Harz befanden sich aber nicht nur kriegswichtige Betriebe der Chemie- und der Metallverarbeitungsbranche. Hinzu kamen strategisch wichtige Anlagen wie die Harzer Erzbergwerke oder der Fliegerhorst Goslar. Herausragend kriegswichtige Betriebe waren z.B.:
- Schickert-Werke in Bad Lauterberg (streng geheim gehaltene Produktionsstätte von Wasserstoffsuperoxid als V2-Treibstoff)
- Werk Tanne ("Verwertchemie") in Clausthal-Zellerfeld (Sprengstoffproduktion; eines der größten Werke dieser Art im Reich; BRAEDT, HöRSELJAU, JACOBS & KNOLLE 1993)
- Wifo Langelsheim (Salpetersäureproduktion für das Werk Tanne)
- Hoesch-Munitionswerke der Silberhütte in Sankt Andreasberg (KNOLLE & RUTSCH 2000)
- Chemische Werke Harz-Weser GmbH in Langelsheim (Aktivkohleproduktion, u.a. Gasmaskenfilter)
- Firmen Gebr. Borchers AG und H.C. Starck in Goslar (Arsen, Seltenmetalle, ABC-Forschung, Spezialchemie)
- Erzbergwerk Rammelsberg in Goslar und Unterharzer Berg- und Hüttenwerke GmbH in Oker-Harlingerode (Metall- und Schwefelsäureproduktion; SCHYGA, JACOBS & KNOLLE 1999).
Hinzu kamen zahlreiche kleinere, weniger bekannte Produktionsstätten.
Den meisten dieser Werke wurden im Krieg Arbeitslager für Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene zugeordnet. Denn in der Kriegswirtschaft des sog. 3. Reiches, insbesondere im Metall- und Bergbausektor, herrschte kriegsbedingt ein eklatanter Arbeitskräftemangel. Die vielen Millionen Fremdarbeiter, die ab Herbst 1941 nicht mehr nur in der Landwirtschaft, sondern mit der Umstellung auf einen langen Abnutzungskrieg auch in der Industrie zum "Arbeitseinsatz" kamen, lebten in einem System von Lagern und Barackenbehausungen, die zum Bild aller Städte und fast jedes Dorfes in Deutschland gehörten. Nach Schätzungen existierten auf dem Reichsgebiet insgesamt etwa 20.000 Lager dieser Art; nur ein Bruchteil von ihnen ist bis heute namhaft gemacht (WEINMANN 1990).
Der Lagerkosmos des NS-Systems wurde seit 1933 systematisch entwickelt; dabei nutzte man sogar langjährige Erfahrungen hinsichtlich der Lagerorganisation in der mit NS-Deutschland zeitweise verbündeten Sowjetunion. Die SU hatte ihr Lagersystem schon seit den 20er Jahren aufgebaut und zunehmend perfektioniert; dieses Wissen wollte die Naziführung offenbar nutzen. STETTNER (1996) zitiert ROSSI und eine französische Darstellung, nach der im August 1939 hochrangige NS-Funktionäre eine Inspektionsreise durch das GULag-System unternommen hätten. ROSSI berichtet (zit. nach STETTNER) weiterhin, dass sich im Sommer 1941 - kurz vor dem deutschen Angriff auf die SU - eine Kommission des NKWD in Deutschland aufgehalten und das NS-Strafvollzugssystem studiert habe. So sensibel Vergleiche (nicht Gleichsetzungen!) der beiden Terrorregime auch sind: STETTNER stellt fest, dass sich beide Lagersysteme nur in einem wesentlichen Punkt unterschieden - der direkten Vernichtung. Die Massenerschießungen und Gaskammern der NS-Lager gab es in der Sowjetunion nicht. Ansonsten weisen beide Lagersysteme aber verblüffende Parallelen auf - vom organisatorischen Aufbau und der Millionenzahl der Toten durch indirekte Vernichtung über den systematischen Einsatz des Faktors Hunger bis hin zur Stellung des Lagersystems im Wirtschaftsregime des jeweiligen Landes. - Auch beim Aufbau des NS-Polizeiapparates gab es Parallelen; so ist bekannt, dass sich Heydrich frühzeitig über Stalins Unterdrückungs- und Spionageorgan GPU und dessen Methoden informieren ließ, um die entsprechenden Erfahrungen für seine Arbeit auszuwerten.
Hervorragende Originalquellen für die Lokalisierung der NS-Lager sind immer noch die von WEINMANN (1990) kommentiert neu herausgegebenen beiden Lagerkataloge des International Tracing Service (Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories; CCP); hier sind etwa 7000 Lager und Gefängnisse lokalisiert. Größe und Art der Zwangsarbeitslager für Ausländer, oft in verharmlosender Pauschalierung "Arbeitslager" oder "Zivilarbeiterlager" genannt, wichen nach WEINMANN stark voneinander ab. Viele Lager hatten den Charakter streng bewachter Haftstätten; in anderen Fällen waren es umzäunte oder nicht umzäunte Unterkünfte, die auf diese Weise leichter von der Polizei zu kontrollieren waren. Bei Detailforschungen stellte sich jedoch immer wieder heraus, dass der Anteil bewachter, rigide kontrollierter Lager sehr hoch liegt.
Anders als die KZ lagen die Zwangsarbeitslager im Wahrnehmungsfeld der Bevölkerung - auch im Harz. Trotzdem wollen sich nur wenige Zeitzeugen freimütig an diese Lager erinnern, obwohl es auch immer wieder Fälle gab, in denen Deutsche den teilweise unterernährten Ausländern in den Lagern aus Mitleid Nahrungsmittel zukommen ließen. Zur Normalität des Lageralltags konnte gehören, dass die "Fremdvölkischen" am Arbeitsplatz - immerhin zumeist mitten in deutschen Betrieben! - zusammenbrachen, weil ihre Nahrungsmittelrationen unter das Existenzminimum gesenkt worden waren. Zu den normalen Selbstverständlichkeiten gehörte es auch, dass bei Luftangriffen "den Ausländischen" der Zugang zu den Luftschutzkellern verwehrt war - sie waren für die Deutschen reserviert (weitgehend nach WEINMANN 1990).
übersicht der Zwangsarbeitslager (ZL), KZ-Arbeitskommandos und Gefängnisse im Westharz
Wir haben uns bei der Zusammenstellung der nachfolgenden Liste auf den niedersächsischen Teil des Harzes mit den heutigen Landkreisen Goslar und Osterode beschränkt; die Hinzunahme des im übrigen wegen der bekannten KZ-Anlagen Mittelbau-Dora bei Nordhausen (Thüringen) und Langenstein bei Halberstadt (Sachsen-Anhalt) in der Literatur bereits sehr viel besser untersuchten Ostharzgebietes hätte den Rahmen dieser kurzen übersichtsdarstellung gesprengt. Die Daten stützen sich im wesentlichen auf die beiden zitierten Bände des Catalogue of Camps and Prisons, wurden aber aus anderen Quellen ergänzt. Nicht berücksichtigt wurden die Harzer Arbeitskommandos der Kriegsgefangenen-Stammlager der Wehrmacht, in denen ebenfalls Zwangsarbeit geleistet wurde.
Herausragende Belegungszahlen von über 2000 Arbeitern hat der Lagerkomplex des Werkes Tanne in Clausthal-Zellerfeld, was aufgrund der Kriegsrelevanz des dortigen Sprengstoffwerkes der Verwertchemie, eines der größten des Reiches, nicht verwundert. An zweiter Stelle folgen die Lager der Metallwerke in Sankt Andreasberg-Silberhütte.
Verantwortung der heutigen Firmen und Nachfolgefirmen
Auf die allermeisten dieser Lager im Harz, in denen sich teilweise grausame Schicksale abgespielt haben, verweisen keine Tafeln oder Gedenksteine; ihre Geschichte ist bisher nur ansatzweise erforscht und dargestellt und muss zumeist erst noch geschrieben werden.
Eine besondere Verantwortung kommt hierbei den Firmen bzw. Nachfolgefirmen zu, die heute für die Produktions- bzw. Lagerstandorte von damals verantwortlich sind. Beispielhaft seien genannt:
- Borchers AG/H.C.Starck GmbH & Co. KG (Zwangsarbeit in den gleichnamigen Firmen in Goslar)
- Deutsche EXIDE GmbH (Zwangsarbeit im Metallwerk Odertal)
- Fels GmbH (Nachfolger der SS-Firma Steine und Erden; Zwangsarbeit im Winterbergsteinbruch bei Bad Grund)
- Harzer Grauhof-Brunnen (Zwangsarbeit in der Mineralwasserabfüllung in Goslar-Grauhof)
- Harzwasserwerke GmbH (Zwangsarbeit an einigen Harztalsperren)
- Hoesch (Zwangsarbeit in den Metallwerken Silberhütte)
- Krupp (Kruppsche Bergverwaltung Bad Harzburg)
- Mitteldeutsche Sprengstoffwerke GmbH MSW (Zwangsarbeit in der gleichnamigen Firma in Langelsheim)
- Piller GmbH (Zwangsarbeit in der gleichnamigen Firma in Osterode)
- Preussag AG (Zwangsarbeit in den Harzer Erzbergwerken und Hütten)
- Schmalbach-Lubeca und Züchner (Zwangsarbeit in den gleichnamigen Firmen in Seesen)
Die Preussag arbeitet die Geschichte ihrer Zwangsarbeit nach langem Zögern nunmehr aktiv auf; von den anderen genannten Firmen sind bisher erst Ansätze, z.T. jedoch gar keine Aktivitäten bekannt geworden.
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Altenau
ZL Baugebiet Eckertalsperre: 90 Arbeiter
ZL Baugebiet Okertalsperre: 100 Arbeiter
ZL Forstamt Altenau
Bad Grund
ZL Erzbergwerk: 150 Arbeiter
ZL Fa. Steine und Erden: 180 Männer und 170 Frauen
Bad Harzburg
ZL Kruppsche Bergverwaltung Bad Harzburg: 120 Arbeiter
ZL Eckertal-Baracken: 50 Arbeiter
Gerichtsgefängnis: 26 Insassen bekannt
"Bad Lautenthal" (wahrscheinlich Lautenthal)1
"Beobachtungslager Bad Lautenthal" der Kinderheilanstalt Braunschweig
(der Tod von 8 Kindern ist beurkundet): ? Kinder
Bad Lauterberg
ZL Schickert & Co.: 400 Arbeiter
ZL Metallwerk Odertal: 500 Arbeiter ("Lager Hauxkopf")
Braunlage
6 ZL bei verschiedenen Betrieben: 260 Arbeiter
Bündheim
ZL Sieg-Lahn-Bergbau GmbH, Ledigenheim: 50 Arbeiter
Clausthal-Zellerfeld
mehrere ZL der Fabrik zur Verwertung chemischer Erzeugnisse Clausthal-Zellerfeld GmbH: 1200 Arbeiter
ZL Dynamit AG, Bauleitung: 300 Arbeiter
ZL Bauhof: 400 Arbeiter
ZL Bürgergarten: 100 Arbeiter
ZL Gemeindehaus: 50 Frauen
Bereitschaftslager: 650 Arbeiter
Gerichtsgefängnis: 260 Insassen bekannt
Dörnten
ZL J.F. Eisfeld Pulverfabrik Kunigunde: 100 Arbeiter
Goslar
KZ-Außenkommando des KZ Buchenwald (25.11.1940 - 7.12.1942): durchschnittlich 60 - 80 KZ-Häftlinge
KZ-Außenkommando des KZ Neuengamme (Oktober 1944 - Ende März 1945): 15 KZ-Häftlinge
ZL Fliegerhorst: 80 Arbeiter
ZL im Schleeke der Chemischen Fabrik Gebr. Borchers AG: 550 Arbeiter
ZL Erzbergwerk Rammelsberg: 350 Arbeiter
ZL Goslarer Kleinbetriebe am Petersberg: 200 Arbeiter
ZL Reichsbahnlager Astfelder Straße: 100 Arbeiter
ZL Grauhof (2 Lager): 100 Arbeiter
ZL Weinbrunnen, Clausthaler Straße: 50 Arbeiter
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