- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
"Gebt uns unsere Würde wieder"
Kriegsproduktion und Zwangsarbeit
in Goslar 1939 - 1945
Dr. Peter Schyga unter Mitarbeit von
Frank Jacobs & Friedhart Knolle
Einleitung
Am 2.6.1945 übersandte das Erzbergwerk Rammelsberg der provisorischen Nachkriegs-Stadtverwaltung Goslar eine Liste der im "Ostarbeiterlager" im Bergtal unterhalb des Herzberger Teiches untergebrachten ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine. "Displaced Persons", kurz DPs, wurden diese Menschen nun genannt, die das Naziregime von 1939 bis 1945 aus ganz Europa zusammengetrieben hatte, um für die deutsche Kriegswirtschaft zu arbeiteten. Viele der DPs wussten nicht wohin. Sie waren seit Jahren fern ihrer Heimat, insbesondere diejenigen, die aus dem Osten Europas ins Reich zwangsverschleppt worden waren. Viele hatten Angst zurückzukehren, denn in der Sowjetunion wurden sie, so zynisch es auch war, als Verräter angesehen und oft genug in Stalins GULAG gesteckt. So wurden sie von den Alliierten zusammengefasst und kamen in ehemaligen Zwangsarbeiterlagern unter. Nach der genannten Liste war die älteste Arbeiterin 69 Jahre alt, das jüngste Kind gerade ein Jahr.
Nach einer amtlichen Statistik des Gauarbeitsamtes Südhannover-Braunschweig vom Juni 1944 waren im Gau bei einer Anzahl von insgesamt 868.000 Beschäftigten knapp 300.000 Ausländer tätig, davon 227.000 "Zivilarbeiter" und 70.500 Kriegsgefangene. Sie arbeiteten in großen und kleinen Fabriken, in der Landwirtschaft, bei Handwerkern, bei der Reichsbahn und in städtischen Betrieben. In Goslar waren es nach Mitteilung an die Gestapo Braunschweig im Juni 1944 2.300 Ausländerinnen und Ausländer. Insgesamt arbeiteten während des Krieges etwa 5.000 Menschen aus dem europäischen Ausland in der Stadt und ihrer Umgebung. 61 Betriebe bedienten sich in diesem Zeitraum ihrer Arbeitskraft.
Die größten Arbeitgeber waren die Chemische Fabrik Gebr. Borchers A.G./H.C. Starck, die Unterharzer Berg- und Hüttenwerke G.m.b.H. mit dem Erzbergwerk Rammelsberg, der Fliegerhorst Goslar, ab August 1944 die Betriebe bzw. ämter Büssing, Chemische Fabriken Oker & Braunschweig, Harzer Weinbrunnen, Harzer Grauhof-Brunnen, Greifwerke, Dr. Genthe & Co., Luther-Werke & Jordan, Bleiwerk Goslar, Ernst Schmutzler, Reichsbahnbetriebsamt Goslar, Maschinenfabrik H. Weule, Stadtforstamt Goslar, Joseph Gastrich und List. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren in folgenden Sammellagern untergebracht:
- Lager des Erzbergwerks Rammelsberg
- Unterkünfte der Firma Borchers Im Schleeke und Sudmerberg 7 und 8a
- Unterkünfte der Greifwerke in der Zehntstraße 6 und Bergstraße 4
- Baracken auf dem Flugplatz und an der Astfelder Straße
- Wohnlager Petersberg
- Goslar-Halle
- Lager auf den Domänen
Etliche wohnten auch in anderen speziellen Unterkünften ihrer Arbeitgeber.
Seit dem überfall auf Polen rekrutierten die Häscher des NS-Regimes aus den besetzten Ländern Arbeitskräfte, um die zur Wehrmacht eingezogenen Arbeiter und Angestellten zu ersetzen und die Rüstungsmaschinerie am Laufen zu halten. Noch waren es nicht viele, denn noch war die Kriegsrüstung nicht "total". Doch mit dem überfall auf die Sowjetunion änderte sich das, erst recht nach der Niederlage von Stalingrad. Die Betriebe mussten ihr Personal an die Wehrmacht und Waffen-SS abgeben. Ersetzt wurden die Deutschen durch ausländische Arbeitskräfte, die systematisch über die Arbeitsamtsverwaltung des Reichs in die Zwangsarbeit gepresst wurden.
Wo die Wehrmacht auch hinmarschierte, das Stadtbild wurde "bunter". Erst kamen Tschechen und Slowaken, dann Polen. Nach dem "Frankreichfeldzug" kamen Holländer, Belgier und Franzosen. Im "Balkanfeldzug" wurden Slowenen und Serben überwältigt und ins Reich geschafft. Nach dem überfall auf die Sowjetunion bemächtigten sich die Organisationen Todt und Sauckel der Menschen der Völker der Sowjetunion; nach Goslar kamen im wesentlichen Ukrainer und Russen.
Goslar wurde aus einer verträumten, mittelalterlich anmutenden, von Handwerk, Mittelstand und Fremdenverkehr geprägten Stadt zu einem wichtigen Ort der Rüstungsproduktion des Naziregimes. Blei, Kupfer und Zink des Rammelsberges und der Hütten im Okertal waren begehrt, die Stahlveredelungsprodukte und Arsenverbindungen der Firma Borchers A.G./H.C. Starck ebenso. Beide Betriebe wurden mit staatlichen Mitteln ab 1935/36 ausgebaut, Produktion und Belegschaften mehr als verdoppelt.
Das UNESCO-Weltkulturerbeprojekt Rammelsberg würde heute nicht existieren, wenn die Nazis nicht durch millionenschwere Investitionen ein volks- und betriebswirtschaftlich unrentables Bergwerk für ihre Kriegswirtschaft erhalten hätten.
Der vorliegende Text will dem Zusammenhang zwischen Kriegsvorbereitung, verbrecherischem Raubkrieg und Zwangsarbeit des NS-Regimes nachgehen und somit auch einen Beitrag zum besseren historischen Verständnis der Goslarer Zeitgeschichte leisten. Es geht uns nicht darum, bestimmte Betriebe oder Personen an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil möchten wir mit allen Betroffenen zusammenarbeiten mit dem Ziel, dass Zwangsarbeit endlich als das anerkannt wird was es war: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine Entwürdigung von Menschen, manchmal bis in den Tod. "Gebt uns unsere Würde wieder", lautet der einhellige Wunsch aller ehemaligen Opfer des Zwangsarbeitssystems.
Die Preussag und der Rammelsberg -
ein Stück Industriegeschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
Am 13.12.1923 wurde die "Preußische Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft" gegründet. Grundlage war das "Gesetz betr. übertragung der Verwaltung und Ausbeutung des staatlichen Bergwerksbesitzes an eine Aktiengesellschaft" mit dem Ziel, eine Einheitsgesellschaft privaten Rechts zur Bewirtschaftung des gesamten Bergwerks- und Hüttenbesitzes des preußischen Staates zu erhalten. Am 30.12.1924 gründeten auf der Grundlage eines Staatsvertrages zwischen Braunschweig und Preußen die Preussag und die Braunschweig GmbH die Unterharzer Berg- und Hüttenwerke (U.H.B.H.W.). Die Preussag hielt 4/7, die Braunschweig GmbH 3/7 des Eigenkapitals. Gegenstand des Unternehmens war der Betrieb des Erzbergwerks Rammelsberg und der Hütten in Herzog-Julius-Hütte, Langelsheim, Oker und Harlingerode. Ziel war es, unter einheitlicher Führung eine Kuppelproduktion zu organisieren: Die im Rammelsberg geförderten Blei-, Zink- und Kupfererze sollten auf den Hütten zu Metall und Metallverbindungen weiterverarbeitet werden. Hütten und Bergwerk waren produktionstechnisch aufeinander angewiesen und erhielten jetzt eine einheitliche Geschäftsführung. Die stark verwachsenen Erze des Rammelsberges erforderten besondere Verfahren bei der Verhüttung, die Hütten waren auf diese Form der "Röstung" spezialisiert.
Das Bergwerk war in Goslar seit langem entscheidender Arbeitgeber. Nicht nur, dass dort viele Menschen arbeiteten, auch wurden die Produkte ihrer Arbeit in der Region weiterverarbeitet und gaben vielen Menschen Lohn und Brot. Die Hütten wurden in der Folge des Abbaus der Rammelsberger Erze errichtet; Glas- und Chemieindustrie hatte sich im Raum Goslar und dem weiteren Nordharzgebiet angesiedelt, um Hüttenprodukte zu nutzen. Die Bergleute selbst hatten einen guten Ruf in der Stadt, und diese setzte sich auch für ihre Belange ein. So gelang es im Frühjahr/Sommer 1932 dem damaligen Oberbürgermeister Klinge, mittels einer konzertierten Aktion von Politik, Industrie und Gewerkschaft, dem Reich und Preußen Subventionszahlungen für das Bergwerk abzuringen und damit die geplante Stillegung im Sommer des Jahres zu verhindern. Im Strudel der Weltwirtschaftskrise war die Belegschaft von 497 (1929) auf 261 (1932) geschrumpft, die Gesamtförderung war von 121.000 t (1930) auf 64.000 t im Jahre 1932 gesunken. Die Weltmarktpreise für NE-Metalle waren seit 1929 um 50% gesunken, eine Konjunkturerholung nicht in Sicht. Erst mit massiver Aufrüstung zur Abwehr der deutschen und japanischen Aggressoren und dem Kriegseintritt der USA stiegen die Metallpreise auf dem Weltmarkt wieder an.
Neben den Preisen setzte aber auch die Fördertechnik und Verhüttung einer Förderung am Rammelsberg mengenmäßige Grenzen. Die Kapazität der Hütten war wegen des aufwendigen Röstprozesses begrenzt. So lag die Förderung am Rammelsberg auch in Zeiten guter Konjunktur bei ca. 100.000 t Roherz pro Jahr. Mit der neu zu errichtenden Flotationsanlage sollte sich das ändern. Ziel war es, den Hütten Konzentrate, insbesondere Zink- bzw. Zinkmischkonzentrate und kupferarme Bleikonzentrate zu liefern. Dadurch sollte es möglich werden, dass die Hütten 98% des Zinks ausbringen konnten. Bislang stellten die Unterharzer Hütten lediglich Zinkoxid her in einem Röstprozess, bei dem 25% des Zinkinhalts der Erze verloren ging. Durch eine verbesserte Aufbereitung und den Neubau einer Zinkhütte in Harlingerode sollte ein produktiverer Verhüttungsprozess möglich werden.
Die weltweite Konjunkturschwäche der Zwischenkriegszeit und erst recht die Weltwirtschaftskrise 1929 hatten den Erzbergbau im Harz heftig getroffen. Die Metallpreise des Weltmarktes waren drastisch gesunken; in den Vorständen der Bergbau- und Hüttenindustrie wurden Krisenstrategien entwickelt. Doch deren unterschiedliche Interessen ließen sich kaum unter einen Hut bringen. Während die Hütten an Rhein und Ruhr, angeschlossen an günstige Verkehrswege, die fallenden Weltmarktpreise für Metallerze begrüßten, stöhnten die Bergwerksbetriebe unter der Last der ausländischen Konkurrenz. Von ihnen ging der Ruf an die Politik nach Einfuhrzöllen und Subventionen aus. Wortführer war Röchling in Völklingen, der massiv eine Autarkiepolitik, wie sie später die Nazis verfolgten, forderte, sich aber gegenüber den einflussreichen Rhein-Ruhr-Verbänden nicht durchsetzen konnte.
Auch die Geschäftsleitung des Rammelsberges betonte noch zu Beginn des Jahres 1933 ihren weltmarktorientierten Kurs, so im Jahresbericht des Unternehmens vom Frühjahr 1933: "Die deutsche Bergbau- und Hüttenindustrie hat sich gegen den Versuch einer deutschen Metallautarkie ausgesprochen, aber den Schutz der heimischen Metallgewinnung verlangt. Die Forderung nach Einführung von Metallzöllen ist noch nicht verwirklicht worden. Die deutsche Regierung hat es für richtiger gehalten, dem Erzbergbau durch Subventionen die Weiterarbeit zu ermöglichen."
Doch nach der Realisierung der Folgen der "Machtergreifung" begann die Geschäftsleitung des Rammelsberges zu handeln. Schon 1930 hatte die Preussag im Oberharz eine selektive Flotationsanlage zu Versuchszwecken in Betrieb genommen. Diese Anlage war Ergebnis jahrelanger Kleinversuche, die Metallgewinnung aus den Erzen des Harzes zu effektivieren. Ziel der Versuche war die Einführung der selektiven Flotation am Rammelsberg, doch die betriebswirtschaftlichen Kosten schienen angesichts der Weltmarktentwicklung zu hoch.
Das änderte sich nach der Machtübernahme Hitlers. Im Mai 1934 wurden staatliche Förderprämien für NE-Metallbetriebe eingeführt - und die neue Rammelsbergleitung reagierte prompt. Im Laufe der Jahre 1933/34 waren die Bergräte Paul-Ferdinand Hast, Willhelm Sauerbrey, Hans Hermann v. Scotti und Karl Bodifeé in die Leitung des Rammelsberges aufgerückt, 1936 folgte ihnen als Finanzdirektor K. Rudolph. Sie erkannten die Chance, die Flotationsversuche jetzt mit Reichsmitteln in einer Großanlage umzusetzen. Ab dem 1.9.1934 koppelte das NS-Regime den deutschen Metallmarkt von der Weltmarktentwicklung ab. Für Zink und Blei, den beiden wesentlichen Metallen des Rammelsbergs, wurden 201 bzw. 210 RM/t als Abnahmepreis festgesetzt. Da auch diese Preise die Gestehungskosten der deutschen Erzbergwerke nicht decken konnten, wurden für die Differenz zwischen Gestehungskosten und Inlandspreisen Förderprämien gezahlt, die in die Finanzierung von Investitionen gesteckt werden konnten.
Am 13.12.1935 widmete die Goslarsche Zeitung (GZ) der Ankündigung eines neuen Industriekonzepts am Rammelsberg zwei Druckseiten. Bergrat v. Scotti hatte Teile einer Denkschrift zum sogenannten "Rammelsbergprojekt" einer ausgesuchten öffentlichkeit aus Goslar vorgestellt: "Der Rammelsberg ist die bedeutendste Erzlagerstätte in Deutschland. Aufgeschlossen in Form von Erz ist dort ein Metallvorrat von nahezu 2.000.000 t an Zink, Blei und Kupfer, von 1.000.000 kg Silber und 7.500 kg Gold nachgewiesen. Alles spricht dafür, daß außerdem noch einmal die gleiche Erzmenge unaufgeschlossen der späteren Erschließung harrt. Trotzdem wurde der Rammelsberg bisher nicht genügend zur deutschen Metallversorgung herangezogen, obwohl mehr als die Hälfte des deutschen Metallverbrauchs aus dem Ausland bezogen werden müssen. Er konnte unserer Volkswirtschaft bisher jährlich nur 23.000 t an Zink, Blei und Kupfer, 16.000 kg Silber und 130 kg Gold liefern. Der Grund dafür liegt darin, daß eine Steigerung der Erzeugung durch bloße Erweiterung der Anlagen unter Beibehaltung des alten und veralteten Gewinnungsverfahrens heute nicht mehr zulässig ist und noch dazu ein wirtschaftlicher Unsinn wäre.
Die Rammelsberger Erze sind zwar metallreich, in sich aber so unendlich fein verwachsen, daß ihre Verarbeitung auf Metall sehr schwierig ist. Erst neuerdings ist es gelungen, für die Verarbeitung der mengenmäßig bei weitem überwiegenden Bleizinkerze ein befriedigendes Verfahren zu finden. Erst dieses neue Verfahren bietet technisch die Möglichkeit zur Steigerung der Erzeugung. Wir haben uns deshalb entschlossen, dieses jetzt unverzüglich durchzuführen.
Unser Rammelsbergprojekt sieht eine Steigerung unserer Metalljahreserzeugung auf 66.000 t Zink, Blei und Kupfer, 35.000 kg Silber und 200 kg Gold vor. Für ein Viertel der Erzförderung, nämlich für die auf unserer Okerhütte verhütteten kupferhaltigen Melierterze, genügt eine Ergänzung der Anlagen ohne wesentliche Veränderung des Verfahrens. Für die übrigen drei Viertel, nämlich für die bisher auf unseren beiden anderen Hütten verhütteten Bleizinkerze, müssen eine Aufbereitung und eine Hütte von Grund auf neu gebaut werden. Für die Metallerzeugung ergibt sich hierbei neben der Steigerung vor allem auch eine wesentliche Verbilligung ... Dabei wird der Devisenwert einer einzigen Jahreserzeugung an Metallen aus dem Rammelsberg nach heutigen niedrigen Weltmarktpreisen berechnet, von bisher 5.500.000 RM auf 14.000.000 RM steigen. Hierzu ist eine einmalige Aufwendung von 19.000.000 RM für Neuanlagen erforderlich. Neben diesen bedeutenden nationalwirtschaftlichen und privatwirtschaftlichen Gründen sprechen dringende wehrpolitische und soziale Gründe für die Durchführung des Projekts."
Die Kosten waren viel zu niedrig angesetzt. 98,87 Mio. RM an Förderprämien steckte das NS-Regime in das Projekt. Noch drei Jahre vorher war das Bergwerk und mit ihm die Hütten von der Schließung bedroht. Nur mit Fördermitteln der damaligen Länder Preußen und Braunschweig sowie des Reichs in Höhe von 8 Mio. RM konnte im Juni 1932 eine Schließung der Betriebe verhindert werden. Am 7.10.1936 fiel das erste Bleikonzentrat des Rammelsbergprojekts vom Filter.
Die U.H.B.H.W. erhielten 1934 1,8 Mio., 1935 5,5 Mio., 1938 17,2 Mio., 1940 14,1 Mio., 1943 8,5 Mio. und 1944 9,6 Mio. RM Förderprämien, insgesamt netto 98,87 Mio. RM. Nur so war das aufwendige Rammelsbergprojekt zu finanzieren. Unter den Bedingungen eines freien Weltmarktes hätte es aus betriebswirtschaftlichen Gründen nie finanziert werden können; erst die Autarkiepolitik des NS-Regimes hatte den Bau der Anlage möglich gemacht.
Die Rüstungsausgaben Deutschlands stiegen von 5,5 Mrd. RM (1935) auf über 16 Mrd. RM (1938). Sie wurden finanziert über die sogenannten Mefowechsel und später mit Reichsanleihen und Steuergutscheinen. Die Staatsverschuldung stieg von 14 Mrd. (1933) auf 42 Mrd. RM (1938). Mit Verkündung des zweiten Vierjahresplans auf dem Parteitag der NSDAP im September 1936 wurde Göring als "Beauftragter für den Vierjahresplan" mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, um die Armee in spätestens vier Jahren "einsatzfähig" und die Wirtschaft "kriegsfähig" zu machen. Unmittelbarer Anlass waren eingetretene Engpässe im Rohstoffsektor. Der devisenverbrauchende Einfuhrüberschuss bei Eisen- und Nichteisenmetallen sollte gemindert werden. Der Aufbau der "Reichswerke Hermann Göring" in Salzgitter war das wohl bedeutendste Projekt für Erzgewinnung und -verarbeitung des NS-Regimes. Seit 1933 war bis 1938 der Einfuhrüberschuss bei Aluminium, Kupfer und Blei gestiegen. Dem sollte durch einheimische Produktion ein Riegel vorgeschoben werden. 1938 betrug z.B. der Anteil importierten Bleis mit 809.000 t 28,6 % des Gesamtverbrauchs, zwei Jahre später nur noch 12 %. Bei Kupfer und Zink waren die Verhältnisse ähnlich.
Was machte die Rammelsberger Erze für das Regime so interessant? Zink und Kupfer, die Haupterzeugnisse des Bergwerks und der Hütten, benötigte man zur Produktion von Messing; Kupfer war für die Herstellung von Granatenführungsringen unverzichtbar. Aus Blei wurden Akkumulatoren (Batterien) und natürlich Geschosse produziert. Aus dem Messing wurden nicht nur Türklinken oder Kronleuchter gefertigt, sondern vorwiegend Geschosshülsen und Armaturen für die Wehrmacht. Aber auch der Silbergehalt der Rammelsberger Erze war ökonomisch bedeutend.
Ab 1937 stiegen die Fördermengen an Roherz sowie entsprechend die Konzentratproduktion und der Ausstoß der Okerhütten. Wurden 1937 noch 107.526 t Roherz gefördert, steigerte sich diese Menge kontinuierlich auf die Maximalförderung während des Krieges von 223.760 t im Jahr 1944. Die Produktionssteigerung machte auch einen Ausbau der Untertageanlagen nötig und möglich. Am 15.1.1938 wurde der neue Rammelsbergschacht in Betrieb genommen. Die Belegschaft erhöhte sich von 289 im Jahr 1933 auf den Höchststand von 910 im Jahr 1938 und schwankte dann bis zum Kriegsende um ca. 850. Eine Chronik der Preussag-Hauptverwaltung aus dem Jahre 1981 vermeldet für das Jahr 1939: "Gute Beschäftigung und hoher Leistungsstand in allen Betrieben." 881 Arbeiter und Angestellte arbeiteten 1939 auf dem Rammelsberg. Die belegschaftsbezogene Tonnenleistung, d.h. die Arbeitsproduktivität, erhöhte sich im Jahr der Machtergreifung 1933 auf 327 Manntonnen/Jahr, stieg 1934 auf 438 Manntonnen und sank dann wieder ab, um 1944 bei 274 Manntonnen zu liegen. Die aus dem Erz gewonnen Metallkonzentrate (Blei, Kupfer und Zink) erhöhten sich durch die Aufbereitung beträchtlich, doch blieben sie danach mehr oder weniger konstant. Das geförderte Erz wurde 1938 zu 101.687 t Konzentrat verarbeitet, aus dem 20.000 t Handelsblei, 8.600 t Hüttenzink, 21.000 t Zinkoxid und 49.000 t Schwefelsäure gewonnen wurden. Die Produktion von Blei in Goslar/Oker machte immerhin fast ein Drittel der reichsdeutschen Produktion aus.
Das Zwangsarbeitsregime am Beispiel des Erzbergwerkes Rammelsberges
Mit Kriegsbeginn verschärfte sich das seit 1937 latent vorhandene Problem der Arbeitskräfteversorgung. Schon 1937 waren Oberschlesier und Saarländer angeworben worden; nun, nach der Einberufung von 143 Beschäftigten zur Wehrmacht, waren sechzig Oberschlesier dienstverpflichtet. Mit der sogenannten "Göringverordnung" vom Mai 1939 wurde die Arbeitszeit für die Untertagebelegschaft auf 8,75 Stunden, für die übertagearbeiter auf 10 Stunden festgelegt. Das erhöhte zwar das Lohnvolumen, aber nicht die Leistung, wie der Jahresbericht von 1940 bemängelt. Sechzehn "Wanderarbeiter" und 31 Elsässer wurden angeworben, von denen aber im Laufe des Jahres 22 wieder verschwanden. Im Gegensatz zu anderen Betrieben, etwa der Firma Gebr. Borchers A.G./H.C. Starck, war die Geschäftsführung des Rammelsbergs auf qualifizierte Arbeitskräfte, insbesondere im Untertagebetrieb, angewiesen. Der Jahresbericht von 1940 beklagt: "Das Jahr 1940 war ein Kriegsjahr. Dem geregelten Ablauf des Betriebes stellen sich zahlreiche Schwierigkeiten entgegen: Die Einziehung von Gefolgschaftsmitgliedern zum Wehrdienst sowie der allgemeine Mangel an Arbeitskräften, die schwierige Beschaffung von Eisen, Holz und Material aller Art sowie die mit der nahezu restlos durchgeführten Planwirtschaft verbundenen Erschwerungen, die Mehrarbeit durch die Versorgung der Gefolgschaft mit Zusatzkarten bzw. Bezugsscheinen für Lebensmittel, Berufskleidung, Arbeitsschuhe, Sohlenleder und Seife".
Das Regime verlangte von der Betriebsleitung eine deutliche Erhöhung der Kupferproduktion. Die Abhängigkeit von Importkupfer war wesentlich höher als bei anderen NE-Metallen. Noch 1939 betrug die Einfuhr fast die Hälfte des Verbrauchs. Das wurde ab 1940 zwar geändert, doch konnte die einheimische Kupfererzeugung die Importlücken nicht schließen. Ab 1941 wurden durch die Flotation 12.000 t, 1942 31.000 t und 1943 39.000 t Bleikupfer-Konzentrat gewonnen.
Mit dem überfall auf die Sowjetunion verschärfte sich die Lage der arbeitenden Bevölkerung zunehmend. Wer nicht eingezogen wurde, musste drastische Kürzungen der Lebensmittelrationen hinnehmen. Die Bergwerksleitung richtete daraufhin unterhalb des Herzberger Teichs eine Schweinezucht ein und ließ Getreide und Kartoffeln anbauen. Die Produktion musste aufrechterhalten, die eingezogenen Arbeitskräfte ersetzt werden. Frauen, die seit 1941/42 massenhaft in der Rüstungsproduktion eingesetzt waren, kamen wegen der schweren Arbeitsbedingungen unter Tage nicht in Frage; es wurden daher Zwangsarbeiter angefordert.
Dieses Verfahren lief folgendermaßen ab: Die Geschäftsführung eines Betriebes stellte einen Anforderungsantrag an das örtliche Arbeitsamt. Das sondierte durch die übergeordneten Behörden in den besetzten Gebieten und den in Deutschland befindlichen Auffanglagern für verschleppte Menschen. Das Goslar am nächsten gelegene Lager befand sich in Lehrte bei Hannover. Die so Erfassten wurden dann den Betrieben zugeleitet. Vom 13.-17.10.1941 kamen die ersten gefangenen "Zivilrussen", 22 Arbeiter unterschiedlicher Berufe, am Rammelsberg an. Am 7.5.1942 folgte der nächste Massentransport aus Charkow in der heutigen Ukraine. Dort hatte die SS ein Sammellager eingerichtet, in dem sie die im dortigen Erz- und Kohlerevier Arbeitenden zusammentrieb. 24 junge Männer wurden auf diese Weise erstmals im Rammelsberg eingesetzt. Sechs Wochen später kamen am 18.6.1942 weitere 46 Grubenarbeiter aus diesem Gebiet, der nächste Transport mit 36 Menschen, unter ihnen 18 Frauen, wurde am 11. November in Empfang genommen. Sieben Monate später trafen weitere 16 Sowjetbürger am Rammelsberg ein. Im Frühjahr 1943 waren 40 Franzosen aus dem besetzten Teil ihres Landes zum Rammelsberg verschleppt worden.
Entsprechend den behördlichen Anweisungen wurden die ausländischen Zwangsarbeiter unterschiedlich behandelt und untergebracht. Die "Ostarbeiter" genannten russischen Zivilgefangenen stellten die unterste Stufe der perversen Nazi-Rassenhierarchie dar. Sie mussten in bewachten Lagern leben und waren den Schikanen der Gestapo und der betrieblichen Aufseher besonders stark ausgesetzt. Der Rammelsberg hatte solch eine Unterkunft noch nicht. Im Jahresbericht 1943 vom 17.1.1944 heißt es: "Zur Unterbringung weiterer ausländischer Arbeitskräfte wurde hinter der alten Inspektion mit dem Bau eines Barackenlagers begonnen. Auf Grund einer Anordnung des Baubevollmächtigten Hannover mußten die Baracken in Holzzementplatten der Firma Lüddemann (Oker) ausgeführt werden. Am Ende des Berichtsjahres waren vom 1. Bauabschnitt von 5 Barackeneinheiten 3 Einheiten fertiggestellt. Davon dienen zunächst 2 1/2 Einheiten als Wohn- und eine 1/3 Einheit als Wasch- und Abortbaracke. Die Räume wurden mit Ostarbeitern belegt. Die hier bisher wohnenden Ostarbeiterinnen wurden in der ehemaligen Maschinistenwohnung neben dem Umspannwerk I untergebracht."
Im Frühjahr 1944 wurden die restlichen Baracken fertiggestellt, so dass über 200 Menschen untergebracht werden konnten. Die Kosten bezifferte die Werksleitung auf 60.000 RM. 1944 arbeiteten 3.013 Arbeiter und Angestellte für die Preussag im Raum Astfeld-Goslar-Oker-Harlingerode: 858 im Erzbergwerk Rammelsberg, 1.256 in der Blei-Kupferhütte und der Zinkoxydfabrik Oker, 618 in der Zinkhütte Harlingerode, 196 in der Herzog-Julius-Hütte, 85 waren der Direktion zugeordnet. 40% der Arbeitenden waren jetzt Ausländer. Ende 1944 arbeiteten am Rammelsberg 351 Zwangsarbeiter: Ukainer, Russen, Italiener, Franzosen, Polen, Holländer, Tschechen, Slowaken, Ungarn und Jugoslawen; unter ihnen waren 37 Frauen.
Die meisten von ihnen waren für den Untertagebetrieb gar nicht oder unzureichend ausgebildet. Die Versorgung mit Nahrung und Kleidung, schon für die deutsche Bevölkerung problematisch, verschlechterte sich zusehends. Seit Beginn des Krieges waren immer mehr Waren rationiert und die für Marken erhältlichen Lebensmittelzuteilungen gekürzt worden. Das Regime unterschied für die Betriebs- und Lagerverpflegungen fünf Kategorien. In die unterste wurden sowjetische Arbeiter in der Rüstungsindustrie als Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter eingestuft. Ihnen stand etwas mehr als die Hälfte der Normalverpflegung an Brot und Kartoffeln zu. Fett und Fleisch waren von ihrem Speiseplan ganz gestrichen. Die Arbeiter aus den westeuropäischen Ländern konnten sich relativ frei bewegen. Streng bewacht wurden die "Ostarbeiter" und Polen. Zuständig war dafür der jeweilige Betriebsobmann der DAF, am Rammelsberg gleichzeitig Leiter der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation/NSBO, der Bergmann Bertram. Die Bewachung wurde schichtweise durch Belegschaftsangehörige organisiert.
Konnte einem Zwangsarbeiter ein Vergehen wie "Bummelantentum" oder die Organisierung von Lebensmitteln bewiesen werden, drohte die überführung an die Gestapo und in ein "Arbeitserziehungslager". Solch eine Meldung lautete dann: "Betr. Pol. Arbeiter Marjan Podruska, geb. 8.9.20. Nach Mitteilung der geheimen Staatspolizei Bad Harzburg wurde der Obengenannte wegen erneuten Verstoßes gegen die Lagerordnung am 21.1.44 festgenommen und auf die Dauer von 56 Tagen in das Arbeitserziehungslager Watenstedt eingewiesen. Er wird am 16.2.1945 mit der Auflage entlassen, die Arbeit im dortigen Betriebe wieder aufzunehmen. Der Aushang dieser Mitteilung im Betriebe ist statthaft."
Dokumentiert sei auch der Fall Maquaire: "Anzeige gemäß Anordnung Nr. 13 vom 1.11.43. Der französische Zivilarbeiter Fernand Maquaire hat am 1.4.44 willkürlich gefeiert. Da es sich um einen Wiederholungsfall handelt, haben wir den M. nach Beratung im Vertrauensrat mit einer Geldbuße in Höhe von zwei durchschnittlichen Tagesarbeitsverdiensten belegt. 11. April 1944." Am besagten 1. April war diesem Arbeiter sein "Weiterverpflichtungsbescheid als Grubenarbeiter am Rammelsberg auf Grund der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 (RGBl. I S. 206) und der Dienstpflicht-Durchführungsverordnung vom 2. März 1939 (RGBl. I S. 403)" vom Arbeitsamt zugestellt worden. Maquaire war Konditor, kam aus Vitri/Seine und war seit dem 26.3.1943 am Rammelsberg tätig. Am 20.5.44 schickt das Bergwerk der Unterharzer Geschäftsleitung folgende Nachricht: "Betr. Entfernung des franz. Zivilarbeiter Fernand Maquaire. In Bestätigung unseres fernmündlichen Anrufes vom 20.5.44 übersenden wir anliegend in doppelter Ausfertigung ausgefüllten Vordruck über den Kontraktbruch des franz. Zivilarbeiter Fernand Maquaire ... Maquaire hat seine Nachtschicht vom 18. auf 19.5. nicht verfahren und ist auch nicht ins Lager zurückgekehrt. M. hat sich kürzlich zur Waffen-SS gemeldet, scheinbar aber auch nur aus dem Grunde, um vom Rammelsberg fortzukommen, da er sich schlecht mit der Arbeitsordnung abfindet und auch schon einige Male gebummelt hat." Am 20.6.1944 erhält die Bergwerksleitung die Nachricht: "Betr.: Mitteilung der Gestapo Braunschweig zu Gesch.-Nr. IV 1 c- 2287/44 ... daß der franz. Zivilarb. Fernand Maquaire am 5.6.44 wegen Arbeitsbummelei auf die Dauer von 21 Tagen einem Arbeitserziehungslager zugeführt wurde. Die Entlassung erfolgt am 25.6.1944."
Mancher versuchte zu fliehen. Einigen glückte das, andere wurden auch in ihren Heimatländern aufgegriffen. Am 22.4.1944 gab der Rammelsberg die Arbeitsbücher von 14 Franzosen und Belgiern dem Arbeitsamt zurück, weil sie "vertragsbrüchig" geworden seien und "mit ihrer Rückkehr in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei". Zwei der Geflüchteten, die Belgier Jean Gerard Heremans und Florent Aerts, wurden "der Feldgendarmerie aufgegeben und werden nach ihrer Festnahme und überführung in ein A.E.L. in Belgien nach hier zurückgeführt", teilte Arbeitssachbearbeiter Wittig dem Erzbergwerk am 13.4.1944 mit.
Was in diesen Korrespondenzen mit "Kontraktbruch" bezeichnet wird, ist mehr als irreführend. Die "Verpflichtungsbescheide" wurden vom Sachbearbeiter des Arbeitsamts unterschrieben und den Betrieben zugesandt; damit war der "Vertrag" besiegelt. Von einer Kündigungsmöglichkeit durch den "Verpflichteten" konnte gar keine Rede sein. Manch einer musste seinen Arbeitseinsatz im Reich mit dem Leben bezahlen. Am 26.10.1944 starb unter Tage der Arbeiter Chariton Kowaltschuk aus Kuschinzi, 14 Tage nach seinem 19. Geburtstag. Der nur drei Jahre ältere Holländer Berend Mulder erlitt schon einen Tag später das gleiche Schicksal. Am 11.3.1944 war der französische Zwangsarbeiter Licien Guignant, Gärtner von Beruf, geboren am 1.1.1919 in Paris, ums Leben gekommen. Er hinterließ nach einer Aufstellung des Lagerwachmanns Schäfer: "1 Anzug, 1 Mantel 1 Arbeitsanzug, 1 blaue Jacke, 2 Hemden, 2 Unterhemden, 4 p. Strümpfe, 1 Pullover, 1 Vorhemd, 3 Handtücher, 1 Waschlappen, 1 Kragenschoner, 1 Krawatte, 1 Kopfschützer, 1 Wolldecke, 1 p Halbschuhe, 1 Brotbeutel, 1 Bündel Stoffreste, 2 Schweißhemden. Kleiner Koffer mit folgendem Inhalt: 1 Brieftasche mit Inhalt, Photos, Militärpapiere, Arbeitsbescheinigung (Frankreich), Arbeitsvertrag für Deutschland, Lohnzettel, Notizbuch mit Adressen, 1 Geldbeutel, 1 Reisepass, 1 Taschenuhr, 1 Hängeschloss, 1 Feuerzeug, 1 Bleistift, 1 Füllhalter, 1 Tabakbeutel, 1 Kleiderbürste, 1 T. Messer, 2 Tabakpfeifen, 1 Sprachwörterbuch, 1 Schere, 1 Rasierzeug, 1 Kamm, 1 Spiegel, 2 Leibriemen, Seifenzeug, 1 Mappe Briefpapier, 3,81 RM Bargeld."
Das Zwangsarbeitsregime am Beispiel der Chemischen Fabrik Gebr. Borchers A.G./H.C. Starck
Das Erzbergwerk Rammelsberg war nur einer von 61 Arbeitgebern in Goslar, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigten. Neben der Preussag war die Chemische Fabrik Gebr. Borchers A.G./H.C. Starck der größte Arbeitgeber - und ein kriegswichtiger Betrieb. Spezialisiert war die Firma seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf die Herstellung von Stahlveredelungsmetallen. Bei der Gewinnung der Stahllegierungselemente Wolfram und Molybdän war die Firma technologisch führend. 1935 übernahm die Firma H.C. Starck von der Hildesheimer Bank die Aktienmehrheit der Firma Gebr. Borchers. Ein Konsortium aus Krupp AG, Gesellschaft für Metallurgie, I.G. Farben und H.C. Starck/Borchers wurde gegründet, um die Gewinnung einheimischer Rohstoffe für die Stahlveredelung zu forcieren. Dieses sogenannte "Ofensauenkonsortium" hatte die Aufgabe, aus den Rückständen der Verschmelzung des Mansfelder Kupferschiefers Molybdän zu gewinnen, ein technologisch energieintensiver und äußerst umweltschädlicher Prozess. Die Anlagen für diese Produktion wurden ab 1935 in Oker gebaut. Ein weiteres Standbein der Produktion war die Arsengewinnung für die Produktion von Schädlingsbekämpfungsmitteln. Auf diesem Gebiet war Borchers seit Jahren Marktführer in Deutschland.
Die Firma Borchers war von ihrem Werksgelände in der Glockengießerstraße (heutiger Standort der Goetheschule) ab 1924 nach Oker umgezogen, weil sie im Stadtgebiet Goslars aus Umweltschutzgründen keine Baugenehmigung mehr erhielt. Bald kam es auch in Oker zu ersten Protesten und Beschwerden der Anwohner. Am 7.8.1925 meldeten die Feldgeschworenen der Gemeindeverwaltung Oker, dass in Gärten von Anwohnern Obst und Gemüse im Wert von 180,- RM durch "Abdämpfe der Chemischen Fabrik Gebr. Borchers" geschädigt worden wären. Dies war der Beginn einer schier unendlichen Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern, Arbeitenden und der Firma Borchers um die umwelt- und gesundheitsschädlichen Folgen der Produktion. Der 1926 gegründete Heimatschutzverein Oker e.V. hatte als vordringliches Ziel, die durch die Chemiebetriebe am Ort entstehenden Umweltbelastungen einzudämmen. Sogar in Zeiten nationalsozialistischer Diktatur war der Verein rege und aktiv. Er hatte auch allen Grund dazu. Borchers/Starck expandierte als Teil des Ofensauenkonsortiums nach 1935 kräftig. Die Belegschaft wurde 1936 verdreifacht. Mit einem neuen Verfahren zur Verarbeitung des Mansfelder Kupferschiefers stieg z.B. der Stromverbrauch enorm. 1936 verbrauchte Borchers 900.000 kWh Strom, die Hälfte dessen, was in der gesamten Stadt Goslar benötigt wurde. 1939 waren es schon 3,1 Mio. kWh, alle übrigen Abnehmer der Kraftwerke in der Stadt verbrauchten 2 Mio. kWh.
Wie die Arbeitsbedingungen im Betrieb gewesen sind, erschließt sich nur aus den Klagen und Protesten der Anwohner und den Gutachten amtlicher Stellen; betriebsinterne Dokumente hat die Firma bislang nicht zur Verfügung gestellt. Im Frühjahr 1939 hatte die Preußische Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene nach Beschwerden von Bewohnern ein Umweltgutachten erstellt, das der Goslarer Stadtbaurat Karl Schneider in einem Vermerk v. 17.5.1939 wie folgt zusammenfasste: "Nach dem Gutachten ... über die von der Chem. Fabrik Gebr. Borchers A.G. in Oker ausgehenden Abgaseinwirkungen sind für Klagen über Nachbarbelästigungen von allen Teilbetrieben lediglich die Anlage für Wolframsäure und metallisches Wolfram verantwortlich zu machen. Die Ausscheidung von Arsen aus der Arsenhütte und Chlor aus der Kobalt-Nickellaugerei soll durch entsprechende Maßnahmen unterbunden bezw. auf das zulässige Maß herabgesetzt sein. Vorausgesetzt ist dabei, daß die entsprechenden Schutzvorrichtungen auch tatsächlich eingeschaltet sind. Bei der Arsenanlage z.B. wurde wiederholt früher die Vermutung ausgesprochen, daß nicht immer, namentlich des nachts, die vorgeschriebenen Filter vorgeschaltet seien. ... Auf alle Fälle erscheint es mir zweckmäßig, weitere Anlagen, die die Nachbarschaft belästigen, innerhalb der jetzigen Borchers'schen Anlagen nicht mehr zuzulassen." Daraus wurde nichts, denn Hitlers Krieg hatte höchste Priorität.
Am 19.6.1939 wurde dem Führer ein Brief aus Oker geschickt, in dem es hieß: "Mein Führer! Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen im Interesse der Gesundheit und Daseinsfreude von ca. 1.000 Volksgenossen folgendes mitzuteilen: Die Anwohner der Galgheitstraße, Goslarschestraße sowie Bewohner der erst vor Jahresfrist erstandenen Bäckerkampsiedlung - sämtlich im Ortsteil Unter-Oker gelegen - werden fast ständig von den gesundheitsschädlichen Abgasen des Betriebes der Firma Chemische Fabriken Gebr. Borchers A.G., Werk Oker, derart belästigt, dass hier schnellste Abhilfe geschaffen werden muß. Außer der von genannter Firma betriebenen Arsen- und Molybdänhütte ist es vornehmlich die seit einigen Jahren in ganz primitiven, niedrigen Gebäuden (Fachwerk mit Pappdach und Dachentlüftungsklappen) untergebrachte Wolframabteilung, deren Gase und Dämpfe bei dem hier fast immer wehenden Westwind in den genannten Ortsteil geblasen werden; in ganz besonderem Ausmaß nachts. Die ersten Häuser liegen ca. 50 m von dem Werk entfernt! Von materiellen Schäden möchte ich hier nichts erwähnen. Die gasgeschwängerte Luft reizt vor allem Schleimhäute, ruft Nasen- und Halsentzündungen, Luftröhrenkatarrhe, Brechdurchfall, Kopfschmerzen usw. hervor. Es ist ein Elend, die kleineren Kinder in dieser verpesteten Luft spielen zu sehen. Die Lehrer einer Schule, die in dem betroffenen Gebiet liegt, wollen künftig den Unterricht ausfallen lassen, bei starker Vergasung. Der Wille zum Kind erstickt hier immer mehr, denn welche Eltern könnten es vor ihrem Gewissen verantworten, unter solchen Umständen Kinder aufwachsen zu lassen. Die beiden Fleischerläden der Galgheitstraße sind ebenfalls oft mit Rauch und Gas angefüllt, so dass die Kunden dieser Geschäftsleute bald darauf verzichten, ihren Bedarf hier zu decken! Ein öffnen der Fenster und Durchlüften der Zimmer ist nicht möglich, nur bei dem hier selten strömenden Ostwind. Der einzige Gesprächsstoff in unserem Ortsteil ist Borchers. Die Volksgenossen sind angesichts der sich immer mehr steigernden Produktion und der damit vermehrten Rauch- und Gasplage empört und verzweifelt, wann hier wohl endlich Abhilfe geschaffen wird. Es geht um unsere Gesundheit ... und doch nur um frische Luft. Es erfüllt mich mit Bitternis, eine kranke Frau und ein elendes Kind durch diese schlechten Luftverhältnisse zu besitzen und weiterhin machtlos zusehen zu müssen, wie 1.000 andere Volksgenossen - darunter unsere teure Jugend - rücksichtslos dem allmählichen Siechtum preisgegeben werden ... Es soll der einzige Betrieb dieser Art in Deutschland sein und die Produkte sollen wehrwirtschaftlich eine wichtige Rolle spielen. Es soll von oben gewünscht werden, dass die Produktion immer mehr und mehr gesteigert werden möge ... Wir sind nicht bereit, unsere Scholle ohne Kampf zu verlassen und wenden uns daher an Sie, mein Führer, in dem festen Glauben, dass auch hier Ihr gesunder, so edler Geist in Kürze helfend eingreifen wird. Sollte es jedoch nach ihrem Ermessen nicht möglich sein, hier Abhilfe zu schaffen, so bitte ich und zugleich auch die übrigen Betroffenen um ihren ausdrücklichen Befehl, mein Führer, weiter auszuharren und durchzuhalten für Sie, für Deutschland ... aber nicht für die Firma Borchers. Heil Hitler! gez. Erich Klotz."
Die Umweltbelastungen müssen extrem gewesen sein, wenn sich unter der Diktatur des NS-Regimes eine Koalition von Anwohnern, ärzten, NSV, DAF, Bürgermeister und Landrat gegen die Firma Borchers gebildet hatte. Aufgrund dieses Drucks beauftragte der Leiter der Reichsstelle für Wirtschaftsaufbau in Berlin am 24.8.1939 das Institut für Medizinische Chemie und Hygiene der Universität Göttingen damit, ein "Gutachten über die Wirkung der von der chemischen Fabrik Gebr. Borchers A.G. ausgehenden Fabrikgase auf den Ortsteil Unter-Oker in Oker (Harz)" zu erstellen. Und dies wenige Tage vor Beginn des 2. Weltkriegs, in einer Zeit, da Rüstungsproduktion höchste Priorität hatte, Störungen des Produktionsablaufs schnell den Sabotagevorwurf und damit massive Strafverfolgung nach sich ziehen konnten! In dem 59 Schreibmaschinenseiten umfassenden Gutachten kommen die Professoren Schütz (Hygiene) und Schoen (Innere Medizin) zu der Auffassung, dass es "eindeutig bewiesen (sei), daß von der Borchers'schen Fabrik Belästigungen ausgehen, die zu einer 'erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit' führen, ja, zu 'Vergiftungszuständen, die als chronische Gesundheitsgefährdungen anzusprechen sind." Das Gutachten hält eine Verbesserung des Emissions- und Immissionsschutzes nicht für möglich. Da "andererseits eine Erhaltung, ja, eine Vergrößerung des Werks gerade in der heutigen Zeit unbedingt von allen Seiten gefordert werden muß," wird empfohlen, die Erweiterung des Werks an anderer Stelle vorzunehmen und "dann das alte Werk nach und nach in neue, einwandfrei gebaute Fabrikhäuser" umziehen zu lassen.
Folgender Zahlenvergleich vermittelt einen Eindruck, mit welchen Verhältnissen die Menschen konfrontiert waren: Bei der Untersuchung von Haarproben auf Arsen stellten die Gutachter bei Personen, die in unmittelbarer Nähe des Werkes wohnten, eine As2O3-Konzentration von 51,7 mg/kg fest. Das bedeutete eine über 170-fache Erhöhung gegenüber in Göttingen gemessenen Normalwerten. Bei Schulkindern, die nicht in Unteroker wohnten, dort aber zur Schule gingen, war die Konzentration noch um das 65-fache erhöht.
Platzgründe gestatten es nicht, hier ausführlicher auf das Gutachten einzugehen; es war aber nicht die einzige alarmierende Einschätzung der Umweltsituation der Borchers A.G. Wohnen mussten die Menschen dort weiterhin, doch wer von den Beschäftigten konnte, suchte sich eine andere Arbeit bei den Reichswerken Hermann Göring in Salzgitter, die händeringend Arbeitskräfte suchten. Das war zwar unter dem System der Dienstverpflichtung über das Arbeitsamt nicht so einfach zu bewerkstelligen, doch Görings Projekt hatte Priorität. Es gibt keine verfügbaren betrieblichen Unterlagen über die Krankenstände im Betrieb. Doch wenn außerhalb der Firmenmauern schon solche katastrophalen Zustände herrschten, welche Schadstoffbelastungen mag es im Betrieb gegeben haben? In einem britischen Geheimdienstbericht, dem B.I.O.S. Final Report No. 690, wird dies nur angedeutet. Unter dem Kapitel "Calcium Arsenate - Borchers A.G. Oker" wird dort aufgrund einer Inspektion nach Kriegsende formuliert: "The works is excessively dirty and dusty. The chlorine absorption system is unsatisfactory and the general conditions of operation are such as would not be tolerated in England." ("Das Werk ist äußerst schmutzig und staubig. Die Chlorabsorptionsanlage ist unzureichend und die Produktionsbedingungen wären in dieser Form in England nicht genehmigungsfähig.")
Der Firma waren die nach dem überfall auf die Tschechoslowakei ankommenden Fremdarbeiter gerade recht. Fast 80 waren es im Frühjahr 1939. Sie mussten untergebracht werden, doch Baumaterial war knapp. Weil aufgrund einer Forderung der Hitlerjugend Goslar der Bau eines neuen HJ-Heims (der heutigen Goslarer Jugendherberge) anstand, erwarb die Firma von der Stadt die alte Jugendherberge, zerlegte sie und baute sie auf dem Betriebsgelände Im Schleeke als Ledigenwohnheim wieder neu auf. Borchers war derjenige Goslarer Betrieb, der die meisten Fremd- und Zwangsarbeiter, männliche wie weibliche, während des Krieges beschäftigte. 823 Menschen insgesamt mussten hier unter übelsten Bedingungen arbeiten und leben. Dem Bericht eines französischen Gefangen entnehmen wir Anhaltspunkte über die Arbeitsbedingungen im Werk: "Wieder andere müssen jede Viertelstunde Behälter umrühren, in denen verschiedene Stoffe kochen, die giftige Dämpfe abgeben. Die Zivilarbeiter erhalten Milch, die Gefangenen nicht. Die Schutzmasken sind nach 15 Tagen zerfressen. Ein Gefangener hat in zwei Monaten drei Hosen verschlissen. Ein Kamerad ist krank geworden, aber er wurde nicht krank geschrieben. Die Gefangenen, die als Mechaniker in der Fabrik arbeiten, bekommen Ausschlag, wenn sie über den Behältern arbeiten ... Die Zivilarbeiter dagegen haben neue Kleidung, die Gefangenen sind in Lumpen. Weder die Handschuhe noch die Holzschuhe noch die Arbeitskleidung wird ausgewechselt. Der Arzt der Fabrik schreibt keinen krank. Nur das Reservelazarett in Goslar, wenn sie dahingeschickt werden, schreibt sie sofort krank."
über die Ausmaße der Unterkünfte gibt die Notiz einer Ortsbesichtigung nach dem Krieg Auskunft: "Das Lager besteht aus 5 Kleinhäusern für je zwei Familien, 1 Behelfsheim, 1 Sechs-Familienhaus, 1 Haus für Gemeinschaftsräume, 2 massiven Baracken und 1 Holzbaracke. Nach den Erklärungen des Lagerführers sind etwa 110 Ausländer zurückgeblieben, die z.Zt. in dem gesamten Lager verstreut wohnen. Nach den Erklärungen von Ratsherrn Wiesener hat das Lager niemals 400 Personen, wie die Militärregierung behauptet, beherbergt, sondern in Zeiten der stärksten Belegung etwa 360. Bei dieser Belegung liegt jedoch eine für die Dauer untragbare Belegung als Massenquartier vor."
Die lange Erfahrung mit Schädlingsbekämpfungsmitteln auf Arsenbasis veranlasste das Regime, die Borchers A.G. zum Ausbau der Arsengewinnung zu nutzen, doch sicherlich nicht nur zur Verbesserung des Pflanzenschutzes. Dass das Regime chemische Kampfmittel produzierte, ist bekannt, und da die Borchers A.G. auf dem Gebiet der Herstellung von Arsenverbindungen führend war, wurde hier die Produktion massiv ausgedehnt. Aber ob Borchers auch auf dem Gebiet der chemischen Kampfstoffe forschte, entzieht sich bisher der historischen Kenntnis.
Ab 1939 herrschte Kriegsproduktion
Mit dem 28.8.1939 wurden Bezugsscheine für Lebensmittel und andere wichtige Dinge des täglichen Lebens vom Ernährungsamt der Stadt erstellt. 4 Tage später begann die deutsche Wehrmacht mit dem überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Der deutschen Reichsführung war klar, dass die Moral der Bevölkerung nicht nur mit Hetze und Propaganda aufrechterhalten werden konnte, sondern dass die Ernährungsgrundlage gesichert sein musste.
Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister Darré, der als agrarpolitischer Fachmann in Hitlers Führungsriege geholt wurde, hatte das schon im Jahre 1936 seinem Führer eindringlich klar gemacht. Die Hungertage des 1. Weltkriegs waren der Bevölkerung noch im Gedächtnis; eine ähnliche Situation sollte sich nicht wiederholen. So war die NS-Agrarpolitik von Beginn an unter kriegswirtschaftlichen Gesichtspunkten planwirtschaftlich organisiert worden.
Das Problem war nur, die Ernährungsgrundlage auch tatsächlich zu sichern. Wohl war klar, dass der Osten ausgeplündert werden sollte, doch das reichte allein nicht. Schon die letzten Vorkriegsjahre waren angespannt, denn dem Reichsnährstand standen wenig Devisen zur Lebensmitteleinfuhr zur Verfügung - die wurden für notwendige Rohstoffbeschaffungen der Rüstungsproduktion gebraucht. Gleichzeitig standen auch die nötigen materiellen Mittel zur Hebung der Produktivität der Landwirtschaft nicht zur Verfügung, Stahl wurde für Panzer und Gewehre benötigt, nicht für Pflüge und Trecker. Hinzu kam eine seit 1936 zunehmende Landflucht. Da mit dem Vierjahresplan die industrielle Produktion mit Staatsanleihen forciert worden war, die Industrie also wieder Arbeitskräfte suchte, verließen viele Landarbeiter die Bauernhöfe, um bequemere und besser bezahlte Arbeit in den Industriebetrieben aufzunehmen. Das war zwar nicht so einfach, weil die Arbeitsämter die Arbeitskräfte verteilten, doch gerade im boomenden Goslarer Raum liefen den Bauern die Arbeitskräfte davon. Kreisbauernführer v. Löbbecke vom Rittergut Dorstadt beklagte diesen Missstand häufig in seinen monatlichen Berichten an den Gau.
Traditionell kamen in die Region Erntehelfer aus Polen, die auch ab 1936 verstärkt angeworben wurden. Ab 1938 suchten die Anwerber der Arbeitsämter in Italien nach Landarbeiterinnen und Landarbeitern. Viele kamen aus den verarmten Regionen des Mussolini-Staates auf die Höfe und Güter der Umgebung. Immer wieder erreichten den Kreisbauernführer Beschwerden über deren angeblich schlechte Arbeitsmoral und ihre südländischen Essgewohnheiten.
Mit dem überfall auf Polen wurde aus Anwerbung Zwang. Die Güter Ohlhof, Grauhof und Riechenberg bekamen die ersten Zwangsarbeiter. Unter den 431 Ausländern, die sich laut Mitteilung der Goslarer Polizeiführung an das Regierungspräsidium am 10.11.1939 in Goslar befanden, waren 137 Menschen aus Polen, davon knapp über dreißig, die aus "Ostoberschlesien", d.h. dem polnischen Teil Oberschlesiens als "deutschstämmig" vom Rammelsberg angeworben waren. Die Mehrzahl aber, vorwiegend Frauen, wurde auf den Gütern eingesetzt.
Wie die "Pflichten der Zivilarbeiter und -arbeiterinnen polnischen Volkstums während ihres Aufenthalts im Reich" ausgesehen hatten, geht aus einem nur für den Dienstgebrauch verfassten Schreiben hervor: "Jedem Arbeiter polnischen Volkstums gibt das Großdeutsche Reich Arbeit, Brot und Lohn. Es verlangt dafür, daß jeder die ihm zugewiesene Arbeit gewissenhaft ausführt und die bestehenden Gesetze und Anordnungen sorgfältig beachtet. Für alle Arbeiter und Arbeiterinnen polnischen Volkstums im Großdeutschen Reich gelten folgende besondere Bestimmungen:
- Das Verlassen des Aufenthaltsortes ist streng verboten.
- Während des von der Polizeibehörde angeordneten Ausgehverbots darf auch die Unterkunft nicht verlassen werden.
- Die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, z. B. Eisenbahn, ist nur mit besonderer Erlaubnis der Ortpolizeibehörde gestattet.
- Alle Arbeiter und Arbeiterinnen polnischen Volkstums haben die ihnen übergebenen Abzeichen stets sichtbar auf der rechten Brustseite eines jeden Kleidungsstückes zu tragen. Das Abzeichen ist auf dem Kleidungsstück fest anzunähen.
- Wer lässig arbeitet, die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte eigenmächtig verläßt usw., erhält Zwangsarbeit im Arbeitserziehungslager. Bei Sabotagehandlungen und anderen schweren Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin erfolgt schwerste Bestrafung, mindestens eine mehrjährige Unterbringung in einem Arbeitserziehungslager.
- Jeder gesellige Verkehr mit der deutschen Bevölkerung, insbesondere der Besuch von Theatern, Kinos, Tanzvergnügen, Gaststätten und Kirchen, gemeinsam mit der deutschen Bevölkerung, ist verboten. Tanzen und Alkoholgenuß ist nur in den den polnischen Arbeitern besonders zugewiesenen Gaststätten gestattet.
- Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann geschlechtlich verkehrt oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft.
- Jeder Verstoß gegen die für die Zivilarbeiter polnischen Volkstums erlassenen Anordnungen und Bestimmungen wird in Deutschland bestraft, eine Abschiebung nach Polen erfolgt nicht.
- Jeder polnische Arbeiter und jede polnische Arbeiterin hat sich stets vor Augen zu halten, daß sie freiwillig zur Arbeit nach Deutschland gekommen sind. Wer diese Arbeit zufriedenstellend macht, erhält Brot und Lohn. Wer jedoch lässig arbeitet und die Bestimmungen nicht beachtet, wird besonders während des Kriegszustandes unnachsichtig zur Rechenschaft gezogen.
- über die hiermit bekanntgegebenen Bestimmungen zu sprechen oder zu schreiben ist streng verboten."
Diese Mitteilung der Gauleitung Südhannover-Braunschweig vom Februar 1940 unterstrich ein Rundschreiben des Reichsführers SS vom 23.12.1939 an die lokalen Behörden: "Betrifft: Behandlung arbeitsunwilliger polnischer Arbeiter. Nach vorliegenden Berichten häufen sich in der letzten Zeit die Fälle, daß sich polnische Staatsangehörige, die in das Reichsgebiet zur Beschäftigung in der Landwirtschaft oder zu gewerblichen Arbeiten hereingeholt worden sind, ohne Genehmigung ihre Arbeitsstelle verlassen und ziel- und mittellos, meist auch ohne gültige Arbeitspapiere, im Lande herumziehen. Diese arbeitsscheuen Polen bedeuten in jeder Hinsicht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Ich ersuche nach derartigen Personen zu fahnden. Werden solche polnischen Staatsangehörige polnischer Nationalität ergriffen, ist ihre Bestrafung wegen Landstreicherei und wegen Zuwiderhandlung gegen die Verordnung über die Behandlung von Ausländern vom 5. September 1939 (RGBl. I S. 1667) - polnische Staatsangehörige unterliegen als feindliche Ausländer dem Abschnitt I dieser Verordnung -, gegebenenfalls auch wegen Paßvergehens herbeizuführen. Nach der Strafverbüßung sind sie dem zuständigen Arbeitsamt zur Zuweisung in Arbeit zuzuführen; dabei ist ihnen die Unterbringung in ein Konzentrationslager anzudrohen, falls sie ihre Arbeitsstelle erneut unerlaubt verlassen sollten. Werden Polen betroffen, die trotz der Bestrafung und erneuter Zuweisung einer Arbeitsstelle diese wieder ohne Genehmigung verlassen haben, sind sie in ein Konzentrationslager einzuweisen. Im Auftrage, gez. Dr. Best."
Auch wenn die Schreiben als vertraulich galten, mussten sie doch scheibchenweise an die öffentlichkeit gebracht werden, damit die Deutschen auch als Herrenmenschen unter dem Motto: "Deutsche, seid zu stolz, euch mit Polen einzulassen" handeln konnten.
So schrieb Lokalredakteur Göbel in der GZ vom 14.8.1940: "In den Straßen Goslars bewegt sich jetzt auch eine ganze Anzahl Gestalten, die wir auf den ersten Blick als nicht zu uns gehörig erkennen. Das "P" auf dem gelben kopfstehenden Viereck warnt uns: es sind unsere Kriegsfeinde, polnische Zivilgefangene oder Arbeiter. Hinweise in der Zeitung und die Plakate in den Schaufenstern müssen jedem Deutschen klargemacht haben, daß es mit diesen Menschen keinen, aber auch gar keinen Umgang gibt. In Goslar wird diese Selbstverständlichkeit gegen Angehörige eines Volkes, das Zehntausende Deutsche wie Vieh abschlachtete, auch beachtet. Für die Polizei geben die Polen besondere Aufgaben. Hier wie auf dem Lande sind besondere Beamte bestimmt, sie ständig zu beaufsichtigen. Diese Aufsicht geht bis zur Kontrolle in den Wohnungen der Polen, die jetzt im Sommer von 21 Uhr abends bis 5 Uhr morgens, vom 1. Oktober ab zwischen 20 und 6 Uhr nachts das Haus nicht verlassen dürfen. Die Polizei achtet auch scharf darauf, daß sie das vorgeschriebene P-Abzeichen tragen und zwar an allen Kleidungsstücken. Sie versuchen allerdings immer wieder, sich um diese unbequeme Maßnahme zu drücken. Die Polen gehören auch nicht in unsere Lokale. Darum ist in jeder Stadt, in der sie in größerer Anzahl leben, eine Schankstätte ausgesucht, die sie besuchen dürfen und wo sie mit den Einheimischen nicht in Berührung kommen. Auch in Goslar ist ein solches Lokal bestimmt."
Der Krieg in Polen wurde von der Deutschen Wehrmacht und der SS unmenschlich geführt, doch die Menschen in der Heimat behandelten die zwangsverpflichteten Polen noch nicht wie Untermenschen. Insbesondere in den Gehöften der Umgebung waren die polnischen Arbeitskräfte notwendiger Ersatz für die fehlenden deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen bei der Ernte und der Frühjahrsaussaat. Noch waren auch keine zwangsrekrutierten Arbeitskräfte aus den Benelux-Staaten und Frankreich zu erhalten, auch wenn der "Westfeldzug" schon "erfolgreich abgeschlossen" war. Die Anwerbemaschinerie musste erst in Gang kommen. Als allerdings die Arbeitsämter Zugriff auf dieses Arbeitskräftepotential hatten, nahmen die Repressionen gegenüber den Polinnen und Polen zu. Sie standen nun in der Rassenideologie der Nationalsozialisten an unterster Stelle menschlicher Hierarchie. Niederländer, Belgier, Franzosen erfuhren eine "bessere" Behandlung als die immer stärker ausgegrenzten Polen. Sie konnten sich außerhalb der Arbeitszeit relativ frei in der Stadt bewegen, wohnten in besseren Quartieren und hatten auch die Möglichkeit zum Urlaub, der den Polen nur theoretisch zustand. Aber auch das sollte sich mit zunehmendem Arbeitskräftebedarf wegen der Einberufungen in Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion ändern. Von Herbst 1940 bis Mitte 1941 kamen 118 Niederländer und 25 Belgier zum Arbeiten in die Stadt. Mit einem Transport im November waren es allein 16 Holländer, die zur Firma Gebr. Borchers verbrachten wurden und in ihren Baracken unterkamen. Insgesamt erhielt Borchers in diesem Zeitraum 210 neue Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Anwerbung Freiwilliger aus Italien hielt an. Anfang Dezember 1940 traf ein Transport von 73 italienischen Männern ein. Sie erhielten zwischen dem 6. und 10. Dezember eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsgenehmigung, die bei den meisten von ihnen bis August 1942 verlängert wurde. Gearbeitet haben 62 von ihnen bei der Firma Gebr. Borchers, gewohnt haben auch sie im Barackenlager Im Schleeke 42.
Die Unterbringung der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter war allmählich zu einem ernsten Problem geworden. Der Bürgermeister von Oker, Bernd, wandte sich am 6. Juni 1941 gegen ein Ersuchen der Wehrmacht, Unterbringungsmöglichkeiten für Offiziere während eines Manövers zugeteilt zu bekommen: "Infolge der Unterbringung der zahlreichen, in den hiesigen und auf dem Stadtgebiet Goslar in Oker liegenden kriegswichtigen Betrieben beschäftigten fremden Arbeitskräften ist wegen der dadurch hervorgerufenen Wohnungs- und Zimmernot eine weitere Unterbringungsmöglichkeit ... ausgeschlossen."
Die Betriebe stellten neue Baracken auf. Am 13.6.1940 erhielt Borchers die Baugenehmigung für eine 600 m3 große Wohnbaracke, zwei Monate später baute die Glasfabrik Genthe & Co. im Schleeke 30/31 eine ebenso große Baracke. Harzer Grauhof erhielt am 29.11.1941 die Baugenehmigung für eine "Mannschaftsbaracke". Ende 1942 konstituierte sich die "Wohnlagergemeinschaft Goslarer Betriebe e.V.", die am Petersberg ein Barackenlager für 200 Zwangsarbeiter errichtete, die in Betrieben der Stadt arbeiteten. Nach dem deutschen überfall auf die Sowjetunion wurden immer mehr Arbeitnehmer zur Wehrmacht eingezogen. Ihre Arbeitskraft wurde ersetzt durch die herbeigeschafften Zwangsarbeiter. Hatte die Wehrmacht zu Beginn des Feldzugs noch auf den Arbeitseinsatz hunderttausender sowjetischer Kriegsgefangener verzichtet und mehr als die Hälfte von ihnen mehr oder weniger systematisch durch Hunger und Krankheit dahinsiechen lassen, wurde wenig später der Arbeitskräftemangel im Reich so spürbar, dass Hitler Fritz Sauckel, seit 1927 Gauleiter von Thüringen, am 21.3.1942 zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannte. Am 22.8. des Jahres wurde ein Erlass genehmigt, nach dem jeder Arbeitsfähige in den besetzten Ländern sowie alle Kriegsgefangenen offiziell zur Zwangsarbeit herangezogen werden konnten. Ein Jahr später präsentierte Sauckel, der sich mit der Einrichtung des KZ Buchenwald "Verdienste" erworben hatte, seine Bilanz: 3.638.056 "neue fremdvölkische Arbeitskräfte" habe er ins Reich gebracht.
Diese wurden jetzt auch vermehrt in kleineren Betrieben eingesetzt. Zur Auffüllung der Wehrmacht hatte das Regime im Jahr 1943 zu einer "Auskämm"aktion ausgeholt. Dadurch wurden die Belegschaften kleinerer Betriebe so reduziert, dass sie wirtschaftlich zusammenzubrechen drohten. Da sich dies mit der Ideologie des Mittelstands als tragende Säule der "Volksgemeinschaft" jedoch schlecht vereinbaren ließ, wurde von dem Vorhaben schnell wieder Abstand genommen. Daher wurden Zwangsarbeiter auch in Betriebe gesteckt, die nicht unter die Kategorie "kriegswirtschaftlich wichtig" fielen. So hatte denn in Goslar 1943 fast jeder Handwerker seinen Zwangsarbeiter. In der Stadtverwaltung wurden sie ebenso eingesetzt wie in der Stadtforst oder dem Arbeitsamt. Die freiwilligen Kontraktarbeiter aus Italien waren ab 1940 verstärkt vom Mussolini-Regime in Rom zurückbeordert worden, weil sie in der Armee dienen sollten; sie mussten ersetzt werden. Junge Frauen aus der Ukraine, oft keine zwanzig Jahre alt, arbeiteten nun in der Landwirtschaft der Umgebung.
Wie es Teilen von ihnen erging, schildert der Bericht einer Frau aus der Ukraine (S.D.), die als junges Mädchen im Frühjahr 1942 nach Grauhof verschleppt wurde: "Nach langer Fahrt musste ich vom 30.4.1942 bis zum 6./7.4.1945 in der Mineralwasserfabrik Harzer Grauhof-Brunnen in Goslar gemeinsam mit 11 weiteren jungen Frauen Zwangsarbeit leisten. Ich war im dortigen Zwangsarbeiterlager unter gefängnisartigen und schlimmen Bedingungen eingesperrt. So gab es z.B. kein Haarwaschmittel; wir mussten dafür die Soda benutzen, die für die Flaschensäuberung eingesetzt wurde, mit allen gesundheitlichen Folgen wie z.B. Haarausfall für uns. Wir durften das Lager in der ersten Zeit bis auf die Produktionsräume und unsere Unterkunft nicht verlassen; erst viel später erhielten wir 2-3 Stunden Freigang täglich. Wir litten ständig Hunger, es gab nur schlechtes Essen, das zudem häufig durch Kakerlaken und Glasscherben gefährlich verunreinigt war. Diese Verhältnisse zwangen uns dazu, nach Möglichkeit weitere und gesunde Nahrungsmittel zu beschaffen. Es herrschte uneingeschränkter Arbeitszwang; wir wurden geschlagen und Tritte gehörten zu den Alltäglichkeiten. Unser Meister hat uns so häufig und intensiv schikaniert, dass ich seinerzeit mehrfach an Selbstmord gedacht habe."
Dieser Erlebnisbericht ist kein Einzelfall. Wir haben Schreiben von Menschen aus der Ukraine dokumentiert, die ähnliches bezeugen. Der Umgang mit den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern war aber durchaus unterschiedlich. Wenn ein Leserbriefschreiber der GZ meint, er und viele seiner Kollegen unter Tage hätten den Russen und Ukrainern heimlich Lebensmittel zugesteckt, was ja bei Strafe verboten war, so war dies menschliche Verhalten sicher kein Einzelfall. Wir kennen auch einen Fall, in dem eine polnische Zwangsarbeiterin auf dem Birkenhof gut und menschlich anständig behandelt wurde. Doch es gab auch viele, offenbar insbesondere in den Großbetrieben, die auf ihr Herrenmenschentum bestanden. Dass der Betriebszellenobmann am Rammelsberg als strammer Parteigenosse seine ihm unterstellten ausländischen Arbeiter grausam und brutal behandelte, ist stadtbekannt. Auch der von der Partei berufene Lagerleiter des Lagers Petersberg war für sein unmenschliches Vorgehen gegenüber den Zwangsarbeitern berüchtigt.
Es gab auch Leute, die sich durch den Anblick von "Untermenschen", wie die offizielle rassistische Sprachregelung lautete, belästigt fühlten. So beschwerte sich der Besitzer einer Strumpffabrik in der Frankenberger Straße bei Oberbürgermeister Droste mit Schreiben vom 8.3.1943, dass auf dem Nachbargrundstück seines Privathauses eine Krankenstation für Zwangsarbeiter errichtet werden sollte: "Ich brachte in Erfahrung, dass auf dem Gelände meines Nachbargrundstücks, im Schönen Garten, mehrere Krankenbaracken für ausländische Arbeiter aufgestellt werden sollten. Wenngleich ich, auch mit anderen der Goslarer Bevölkerung, der Ansicht bin, dass diese Baracken ebenso zweckmäßig ausserhalb des Stadtgürtels, mehr isoliert und weniger im engen Bereich von Wohn- und Villengebäuden hätten aufgestellt werden können, so wird sich an diesem aus zwingender Notwendigkeit gefassten schnellen Entschluss wohl nichts mehr ändern lassen, da schon augenblicklich mit den Vorbereitungen begonnen wird. Ich sehe mich daher veranlasst, auf die Folgen aufmerksam zu machen, die durch diese Kranken-Auslands-Kolonie dadurch entstehen können und unvermeidlich werden, weil diese beiden Grundstücke, früher ungeteilt, jetzt durch einen total überblicklichen einfachen Lattenzaun getrennt sind. Da wahrscheinlich damit gerechnet werden muß, daß die gehfähigen Rekonvaleszenten sich frei im Garten bewegen dürfen, bitte ich, mich gegen diesen unerquicklichen Anblick und gegen mögliche Belästigungen und übergriffe, übersteigen des niedrigen Zaunes, auch aus hygienischen Gründen dadurch zu schützen, dass das Grundstück infolge dieser Krankenbaracken durch einen höheren Bretterzaun, wie auch sonst bei solchen Baracken allgemein üblich, geschützt und besser getrennt und isoliert wird. Ich darf hierzu wohl um Ihre Mitteilung bitten. Heil Hitler! Blumenberg". Eine Antwort ist nicht überliefert.
Diese Haltung des "aus den Augen - aus dem Sinn" war durchaus nichts Ungewöhnliches. Noch nach dem Krieg hatten einige ehrenwerte Bürger der Stadt nichts besseres zu tun, als sich über "plündernde" DPs aufzuregen. So hieß es auf der Magistratssitzung vom 29.6.1945: "Die Ausländer verursachen der Stadt ganz ungeheure Ausgaben. In der kurzen Zeit sind schon Kosten in Höhe von über 200.000 RM entstanden. Das kann nicht so weitergehen." Und ein anderer Teilnehmer der Runde "bringt zum Ausdruck, daß jedem anständigen Menschen der Gedanke unerträglich sein müsse, daß die Ausländer hier in Deutschland nicht arbeiten, frei und gut leben und obendrein noch plündern." Der einzige nachweisbare Vorfall war allerdings nur die Zerlegung der Inneneinrichtung der Borchers'schen Lager.
Zurück ins Nazireich. Partei und Teile der Verwaltung versuchten mit Argusaugen und polizeilicher Gewalt die Versklavung perfekt zu machen und jeden Anflug menschlicher Regung bei den Deutschen zu unterdrücken, wo sie es konnten. Am 14.2.1944 erhielt beispielsweise die Firma Dr. Ernst Lüddemann in Oker, ein kriegswichtiger Betrieb, der Lagerbaracken in Fertigbauweise aus Holzzement produzierte, ein Schreiben des Bürgermeisters: "Wie mir gemeldet wurde, haben die bei Ihnen beschäftigten Russen am 11.2.1944, nach 20 Uhr Ihr Werk verlassen und sich nach Richtung Oker begeben. Nach der kürzlichen telefonischen Verabredung sollten die Russen nach Dunkelwerden das Werk nicht mehr verlassen, was aber nicht eingehalten ist, und da eine Einkaufsmöglichkeit nach 20 Uhr nicht mehr besteht, ersuche ich, Ihre Wache nochmals energisch anzuweisen, damit dieser Zustand aufhört."
Dieses Schreiben besagt zweierlei. Zum einen haben die Wachmannschaften offenbar ein Auge zugedrückt und den Zwangsarbeitern ein wenig Freiheit gewährt, was zur sofortigen Intervention der Staatsmacht führte. ähnliches bezeugt ein weiteres Dokument. Am 3.6.1944 bekam Oberbürgermeister Droste von der Kreisleitung der NSDAP folgendes Schreiben: "Ich mache Ihnen folgende Meldung: Bei einem Streifendienst des NSKK im Gut Riechenberg und Umgebung kam den Männern nachstehendes zur Kenntnis, ich erhielt davon Mitteilung: Am Sonntag, den 15.5. d.Js. seien auf dem Gut Riechenberg 50 - 60 Fremdvölkische mit Musikinstrumenten usw. zusammengekommen. Ich verweise hierbei auf die Ausführungen des Gauleiters in der letzten gemeinsamen Arbeitstagung der Kreisleiter, Oberbürgermeister und Landräte und bitte Sie, Ihre Polizeibeamten anzuweisen, mehr als bisher und gerade auf den umliegenden Gütern derartige Zusammenkünfte in Zukunft zu verhindern. Ausserdem sei auf dem Gut Riechenberg vor einigen Woche durch einen Schmied Hohmann ein Russe festgenommen und eine Nacht in den Keller eingesperrt. Am anderen Morgen habe ihn die Polizei abgeholt. Nach wenigen 100 Metern habe dieser Hohmann beobachtet, wie der Polizeibeamte dem Russen ein Butterbrot gab. Am anderen Tag sagte daraufhin der in der Schmiede auf Gut Riechenberg beschäftigte Russe 'Polizei gut, aber Meister nicht gut. Polizei hat Kameraden Brot gegeben.' Ich bitte, auch alle Ihre Polizeibeamten und Hilfpolizeibeamten zu belehren, straffällige Fremdvölkische nicht zu weich anzufassen oder noch zu füttern. Die Pächter der städtischen Güter sind ebenfalls von Ihnen darauf aufmerksam zu machen, Zusammenkünfte Fremdvölkischer nicht auf ihren Gütern zu dulden, ich bin sonst gezwungen, dies dem Gauleiter zu melden, der gegen Betriebsführer, die derartiges nicht zur Meldung bringen unnachsichtig Strafanzeige erstatten wird." Die daraufhin vernommenen Polizeibeamten stritten die Vorfälle ab. Man kann aus diesen und anderen Quellen schließen, dass auf den Goslarer Gütern offenbar eine relativ humane Zwangsarbeiterbehandlung vorherrschte.
Die Nazi-Kreisleitung schien viel beschäftigt mit dem teilweise unvorschriftsmäßigen Umgang der Bevölkerung mit den "Fremdvölkischen". Am 31.8.1944 beschwerte sie sich bei Oberbürgermeister Droste:
"1.) Ich bitte für die Freibäder in Goslar umgehend eine einheitliche Regelung zu treffen, dass ein Baden deutscher Volksgenossen mit Fremdvölkischen zusammen unmöglich ist, und zwar ist nicht den Deutschen, sondern den Fremdvölkischen das Betreten der Badeanstalten zu verbieten. Hierbei ist unter allen Umständen Rücksicht auf die arbeitende Bevölkerung zu nehmen, die erst nach Dienstschluss diesem Sport nachgehen kann. Den Fremdvölkischen ist das Betreten höchstens an 2 Tagen (auf keinen Fall am Wochenende und am Sonntag) und dann nur ein paar Stunden zu gestatten.
2.) Bei dieser Gelegenheit bitte ich darum, durch die Polizei sofort Kontrollen durchführen zu lassen, dass in den hiesigen Gaststätten den Fremdvölkischen nicht alkoholische Getränke, auch nicht Dünnbier, ausgeschenkt wird. Verstösse hiergegen sind sofort entsprechend in Strafe zu nehmen.
Zu 1) bitte ich um Mitteilung, welche Regelung getroffen ist und gleichzeitig auch um genaueste überwachung. Verstösse gegen Punkt 2) bitte ich zur Kenntnis zu bringen".
Die Verwaltungsspitze sputete sich, dem Verlangen der Partei Folge zu leisten. Der Kreisgruppenleiter des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes Brasching aus Oker erhielt von Bürgermeister Mühlenberg einen geharnischten Beschwerde- und Drohbrief: "Aus gegebener Veranlassung ersuche ich im Einvernehmen mit dem Kreisleiter, alle Gastwirte erneut auf die strikteste Beachtung der diesbezüglichen Polizeiverordnung hinzuweisen. Wer vorsätzlich oder fahrlässig den Vorschriften zuwider handelt, wird mit Geldstrafe oder mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Ich werde Kontrollen veranlassen. Von deutschen Volksgenossen, die aus beruflichen oder familiären Gründen auf Gaststättenverpflegung angewiesen sind, wird bewegt darüber Klage geführt, daß die Lokale besonders zur Essenszeit von Ausländern überfüllt sind, die bevorzugt Stammgerichte und markengünstige Speisen wiederholt bestellen und erhalten. Deutsche Volksgenossen finden oft keinen Platz oder gestrichene Speisen auf der Karte. Sie gehen leer aus. Wenn die hier arbeitenden Ausländer (nicht Polen und Ostarbeiter) auch Zutritt zu den Gaststätten haben, so gebieten doch die deutsche Haltung und das Zeitgeschehen, unbedingt dem deutschen Volksgenossen jeden, aber auch jeden Vorrang vor den Ausländern zugeben."
Es schien sich ein Schlendrian unter Teilen der Bevölkerung eingeschlichen zu haben, den die Verwaltungsspitze als oberste örtliche Polizeiführung gebannt sehen wollte. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter waren ja auch im Stadtbild präsent. Die aus Westeuropa stammenden waren auch nicht durch das "P" oder das "OST" als Aussätzige markiert, doch es lag im Interesse der Regimes, sie zu isolieren und von der Kommunikation mit den Einheimischen abzuschotten. Auch von allgemeinen politischen Informationen oder Meldungen über die militärische Lage sollten sie ausgeschlossen sein. Vom 5.2.1943 stammt ein Rundschreiben des DAF-Verantwortlichen Weberling, in dem er das Verbot des Radiohörens für ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter den Betrieben mitteilt: "Wir machen darauf aufmerksam, dass ab sofort verboten ist, für ausländische Arbeitskräfte im Betrieb den Nachrichtendienst anzustellen. Lediglich Sondermeldungen dürfen auch für Ausländer eingestellt werden. Dasselbe gilt für die Lager, in denen Ausländer untergebracht sind."
Nach der kriegsentscheidenden Niederlage von Stalingrad sollten die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nichts vom Rückzug der deutschen Truppen erfahren. Das hätte deren Hoffnung auf Befreiung erhöht und wäre der Arbeitsmoral wohl abträglich gewesen, so das Kalkül der Partei. Ein Jahr später durften sie auch nicht mehr die beliebten Quatsch- und Tratschetablissements, die Friseurgeschäfte, aufsuchen: "Mit dem heutigen Tag ist in dem früheren Friseurgeschäft von Gans, Goslar, Marktstr. 16, ein Friseurladen für Ausländer eingerichtet. Die Ausländer werden für die Folge in den Friseurgeschäften der Stadt Goslar nicht mehr bedient, und ich bitte Sie, dafür Sorge zu tragen, dass die in ihrem Lager wohnenden oder in Ihrem Betrieb beschäftigten fremdvölkischen Arbeiter darüber orientiert werden, daß in der Marktstr. 16 dieses Geschäft eröffnet ist und daß sie dort zur Bedienung hinzugehen haben," teilte Weberling den Betriebsführern des Ortes am 11.2.1944 mit. Doch sicher konnte auch diese Maßnahme das Wissen um den baldigen Zusammenbruch nicht schmälern.
Einer Mitteilung an die Gestapo Braunschweig zufolge arbeiteten 2.300 Männer und Frauen aus den okkupierten Ländern Europas im Sommer 1944 im Goslarer Stadtgebiet. Unter ihnen nun auch vieler Italiener, die nach der Kapitulation Italiens als Militärinternierte gefangengehalten wurden. Sie wurden im September 1944 vor die Alternative gestellt, sich der Wehrmacht oder der Waffen-SS zur Verfügung zu stellen oder als Zwangsarbeiter tätig zu werden. So kamen über 150 Mann aus dem Stalag Fallingbostel in die Lager und Betriebe nach Goslar.
Goslars Rüstungsindustrie erhielt im August 1944 ein weiteres Standbein. Unter dem Namen "Firma Bottke" verlegte das von Luftangriffen stark beschädigte Büssing-Werk einen Teil seiner Produktion von Braunschweig-Querum nach Goslar. In der für die Feierlichkeiten der Reichsbauerntage errichteten Goslar-Halle wurden nun Flugzeugmotoren produziert. Da es in der Stadt keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr gab, wohnten die Zwangsarbeiter dieses Betriebes in der Produktionsstätte.
1943 hatte die Reichsbahn eine Abteilung des Ausbesserungswerkes Braunschweig nach Goslar verlegt. Zwar lag Goslar etwas außerhalb der Hauptverbindungswege für den Nachschub nach Osten, doch es war bislang von Luftangriffen verschont geblieben, so dass sich die Reichsbahn zu dieser Verlagerung entschloss. Für die benötigten Zwangsarbeiter wurden an der Astfelder Straße eigens Baracken aufgebaut. 150 Männer, überwiegend aus dem Westen Europas, arbeiteten hier bis Kriegsende für die Instandsetzung der Transportkapazitäten der deutschen Wehrmacht.
Goslar war nun keine gemütliche Provinzstadt am Tor zum Harz mehr, sondern durch viele Betriebe zur wichtigen Kriegsproduktionsstätte geworden. Dort, wo nach den Vorstellung der Verwaltungsspitze der Stadt die repräsentativen Bauten und Wohnungen des Reichsnährstandes hätten stehen sollen, im Gelmketal, erstreckte sich nun ein stinkendes, toxische Stoffe enthaltendes Schlammabsitzbecken mit Aufbereitungsabgängen der Grube Rammelsberg. 3.000 Verwundete beherbergten die Hilfslazarette der Stadt. Der Achtermann und der Niedersächsische Hof waren ausgelastet, die am schlimmsten Verstümmelten wurden etwas abseits der Stadt auf dem Hessenkopf untergebracht. Das Leben war ungemütlich geworden. Die Entgitterungsaktionen der Partei hatten alles verfügbare Metall eingesammelt. Kirchenglocken mussten als Metallschrott in die Hochöfen ebenso wie die metallenen Zäune der Hauseigentümer. Einen Bus- und Eisenbahnverkehr gab es kaum noch; Autoverkehr war schon lange Luxus für Funktionäre geworden. Fahrräder, wenn sie nicht requiriert worden waren, waren selten funktionstüchtig - es gab kein Gummi mehr. Die Ernährungslage verschlechterte sich bald täglich. Alle vier Wochen änderte das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft die amtlichen Zuteilungsmengen für Lebensmittel. Nur die Formularhersteller profitierten davon. Jeder Innenhof der Stadt wurde nun genutzt, um Essbares in Eigenregie anzubauen. Die Beschwerden beim Ernährungs- und Beschaffungsamt der Stadt häuften sich. Tausende von Bombenflüchtlingen aus den bombardierten Metropolen des Reichs bevölkerten die Stadt und benötigten Wohnraum. Die Menschen mussten enger zusammenrücken; sie taten das nur widerwillig und oft erst unter Zwangsmaßnahmen der Polizei. Kleine Vergehen wie die Schieberei mit Lebensmittelkarten wurden hart bestraft. Wer sich in dieser Situation der wachsenden Kontrolle und des zunehmenden Misstrauens den Zwangsarbeitern gegenüber noch menschlich benahm, wurde von seinen deutschen Mitmenschen stigmatisiert, wenn nicht von den Behörden bestraft.
Die Firma Genthe z.B. erhielt auch ihre Zwangsarbeiter, anders war die Produktion nicht aufrechtzuerhalten. Genthe war im Krieg ein wichtiger Produzent von optischen Geräten wie Ferngläsern oder Sehrohren. Die hochsensible und technisch anspruchsvolle Produktion verlangte einen vernünftigen Umgang mit dem Personal. Während z.B. die Fluktuation, d.h. der Verschleiß an Arbeitskräften bei Borchers sehr hoch war, kann man dies bei Genthe nicht beobachten. Das lässt darauf schließen, dass hier die Arbeits- und Lebensbedingungen erträglich waren. ähnlich bei den Greifwerken - auch ein kriegswichtiger Betrieb, obwohl er "nur" Büromaterial herstellte. Etwa 60 Zwangsarbeiterinnen waren in Räumlichkeiten, die der Firma gehörten, untergebracht. In der Zehntstraße 6 und der Bergstraße 4 wohnten diese Frauen, vorwiegend aus Polen und der Ukraine. Sie hatten es ein wenig behaglich, die Bilder, die die Ausstellung zeigt, trügen nach unseren Informationen nicht. Die Frauen durften ohne Bewachung aus der Zehntstraße die paar Meter zum Betrieb laufen, was bei Borchers oder den Okerhütten der Preussag nie geduldet wurde. Vergleichbar vernünftig behandelt wurden die Frauen, die bei der Firma List gearbeitet haben, was sowohl Opfer als auch deutsche Angestellte versichern. Mancher kleinere Betrieb hatte nach dem Krieg noch Kontakt zu seinen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, z.T. bis heute.
Diese Tatsachen belegen, dass menschliches Verhalten durchaus möglich war, doch sie können nicht davon ablenken, dass die Versklavung von Menschen, ihre Herabwürdigung und Demütigung aus machtpolitischen oder rassistischen Gründen auch in Goslar üblich war und zum Alltag des Lebens im Nationalsozialismus gehörte.
Alle Quellen und Veröffentlichungen: Archiv Verein "Spurensuche Goslar e.V."
Vorstehender Text entstand aus einem Begleittext zur gleichnamigen Ausstellung im Goslarer Museum; die Tafeln der Ausstellung sind über den Verein Spurensuche Goslar e.V., Postfach 2505, 38615 Goslar, Tel. 05321/41387, Fax 41347, e-mail fknolle@t-online.de auszuleihen. Hier ist auch die vollständige Begleitbroschüre zu Ausstellung erhältlich.
Wir danken dem Land Niedersachsen und insbesondere dem Niedersächsischen Kultusministerium, durch dessen finanzielle Unterstützung die Ausstellung erst möglich wurde.
|
begleittext ||
ausstellung ||
zwangsarbeit ||
würde ||
|| 13965 Mal gelesen, zuletzt am 09.10.2024 um 03:15:38 |