- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Ausstellung der "Harzburger Front" in Braunschweig eröffnet
Am So., 19. Sept. 2010 wurde im Braunschweigischen Landesmuseum die Präsentation der Ausstellungzusammen mit der Ausstellung "Rechtsextremismus heute" der ARUG eröffnet.
Mehr als 100 Menschen hörten den Begrüßungen von Dr. Hans-Jürgen Derda, kommissarische Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums, Markus Weber
vom Verein Spurensuche Harzregion und den Vorträgen von Dr. Peter Schyga undReinhard Koch aufmerksam zu. Diese Doppelausstellung versteht sich als eine Art Pilotprojekt, durch Darstellung und Analyse des Weges in die NS-Diktatur ein Lernen aus Geschichte mit Formen und Handlungsweisen des gegenwärtigen Rechtsextremismus in Beziehung zu setzen.
Reinhard Koch plädierte in seinem Vortrag, den Rechtsextremismus, seine inneren Verbindungen zur Mitte der Gesellschaft und seinen erheblichen Einfluss auf Teile von Jugendkultur ernst zu nehmen. Es gelte insbesondere den an den Rand der Gesellschaft gedrängten jungen Menschen Formen der Integration und Partizipation nahe zu bringen, praktisch zu erläutern, dass "Demokratie Spaß macht".
Peter Schyga trat in seinem Vortrag "1931 war die Zukunft für die Menschen offen" dafür ein, Geschichte als vormals offenen Prozess zu verstehen, um sie begreifen zu können. Denn Begreifen von Geschichte ist - das zeigt sich an erheblichen Defiziten unserer gegenwärtigen Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur - Voraussetzung, den beliebten Imperativ "aus Geschichte Lernen" für die Gegenwart konstruktiv auszufüllen.
An dieser Stelle sei die Rede von Dr. Peter Schyga dokumentiert (unten als html/Text-Version):
Peter Schyga, Hannover
1931 war die Zukunft für die Menschen offen.
Vortrag auf der Eröffnungsveranstaltung der Doppelausstellung "Harzburger Front im Gleichschritt zur Diktatur" des Vereins Spurensuche Harzregion und "Rechtsextremismus heute" der Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt Braunschweig im Braunschweigischen Landesmuseum am 19. September 2010.
Wir haben unsere Ausstellung bei ihren Eröffnungen mit Fachvorträgen begleitet. In Bad Harzburg sprach Prof. Joachim Perels, Hannover, zur "Bedeutung der 'Harzburger Front' für den Aufstieg des Nationalsozialismus, im niedersächsischen Landtag Prof. Sybille Steinbacher, Jena u. Frankfurt am Main, "Der Tag von Bad Harzburg. Zur Bedeutung der 'nationalen Opposition' gegen die Weimarer Republik".
1 Meine Vortrag heute ist der erste einer Reihe von Veranstaltungen zu Politik und Kultur im Themenfeld der Ausstellung, die wir hier im Museum abhalten werden.
Er handelt davon, dass die Zukunft für die Menschen der Krisenzeit von Weimar, einer Zeit, mit der sich unsere Ausstellung befasst, offen gewesen sei. Sich heute in dieser Sichtweise der Vergangenheit zu nähern, hat im Wesentlichen zwei miteinander verwobene Gründe, über die ich heute auch sprechen will:
Wir können Geschichte begreifen lernen, wenn wir sie nicht nur als geronnene Vergangenheit wahrnehmen, sondern als ein Ringen der damals politisch Handelnden um ihre Gegenwart und Zukunft damals betrachten. Mit dieser Herangehensweise eröffnen sich uns andere Reflexionsebenen für gesellschaftliches Handeln in der Gegenwart.
Vorwegschicken möchte ich eine Bemerkung: Im Lichte relativ aktueller Äußerungen aus der Mitte der Gesellschaft zu Möglichkeiten und Bedingungen von Ausgrenzung und der Konstruktion gesellschaftlicher Freund/Feind-Beziehungen im Geiste Carl Schmitts habe ich den inhaltlichen Schwerpunkt meines Vortrags ein wenig verändert. Ich werde bei meinen historischen Betrachtungen etwas mehr Wert auf den Gegenwartsbezug legen.
Ich hoffe, sie werden dafür Verständnis haben.
Wir haben heute in unserem heutigen Musikprogramm eine Änderung gegenüber unserer bisherigen Praxis eingeführt. Statt des "Kälbermarschs" sang Bernd Krage-Sieber das "Solidaritätslied", entstanden für und um den Film Kuhle Wampe, den wir in 3 Wochen hier zeigen und kommentieren werden. Ich will nicht allzu viel vorwegnehmen: doch die Botschaft dieses 1931/32 entstandenen Films lebt von der Utopie einer anderen Welt, wenn es am
Schluss des Liedes und des Films heißt: "Wessen Morgen ist der Morgen, Wessen Welt ist die Welt?" Dem Ausruf wurde unter rezitierenden Sozialisten oft noch das "Unser!" hinzugefügt.
Utopie bedeutet, um mit Oskar Negt zu sprechen, "die konkrete Verneinung der als unerträglich empfundenen gegenwärtigen Verhältnisse, mit der klaren Perspektive und der mutigen Entschlossenheit, das Gegebene zum Besseren zu wenden."
2
Beide Lieder handeln von unterschiedlichen "neuen Welten". In dem zynisch-bösen vertonten Gedicht von Brechts "Kälbermarsch" dräut die dunkle Ahnung von der Schlachtbank als Fanal einer Terrordiktatur. Wir wissen, diese hatte sich in ihrer Brutalität, Menschenverachtung und Menschenvernichtung durchgesetzt, wie es sich kein Mensch außerhalb des NS-Führungszirkels 1931/32, noch nicht einmal 1933/34 vorstellen konnte.
Dies war die andere, auch in Liedern - eher musikalischen Schlachtengemälden - bekundete "unsere Welt", eben keine Utopie, sondern die Welt des Teils der deutschen Gesellschaft, der diese zerstören und gewaltsam in die Gemeinschaft der Rasse- und ideologiegleichen verwandeln wollte und verwandelt hat. Es war die Welt des Heils, der Verheißung außerhalb der Normativa der Aufklärung. Es war mithin die Welt derjenigen, die, statt sich, wie es bei Kant heißt, ihres "Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen"
3, dem Führer der NSDAP und dessen Befehlsorganen unterwarfen.
Von einer Etappe in diese Welt der NS-Diktatur berichtet unsere Ausstellung. Wiedergabe und Analyse von Geschichte, wie sie gewesen und geworden ist, ist ihre Aufgabe, damit wir erinnern und lernen. Erinnern und Lernen lautet die Maxime über einem Tun, das wirErinnerungsarbeit nennen. Doch irgendetwas läuft seit geraumer Zeit unrund: Das Lernen kommt zu kurz. Wir haben uns in Deutschland mühsam eine Gedenk- und Erinnerungskultur erarbeitet, die eins auszeichnet: sie stellt die Opfer des NS-Regimes in das Zentrum. Das ist unbedingt richtig. Doch der hehre Anspruch "Geschichte bewusst machen" - das Motto der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Hauptförderer des Ausstellungsprojekts -, ein Anspruch, der ja auch bedeutet Geschichte von morgen - und das ist die Gegenwart von heute - bewusst machen, das heißt gestalten, engagiert in Angriff nehmen und dies gestützt auf das Begreifen von Geschichte, dieser Anspruch kann nicht immer eingelöst werde. Er wird verkümmern, wenn wir nicht um ihn ringen.
Wir drohen uns im Gedenken an die Opfer zu verlieren, drohen die Täter und ihr Handeln, das wir doch begreifen müssen, in den Hintergrund zu schieben, drohen zu vergessen, dass Geschichte von Handelnden, den Interaktionen von Menschen um Gestaltung ihrer Gegenwart und Zukunft erzählen soll. Eine zunehmende Ritualisierung von Erinnerungskulturen und Gedenkpraktiken zu szenischen Vorführungen bei Vernachlässigung von Auseinandersetzung mit politischen Praktiken der Vergangenheit, schafft untaugliche Tabus und gewährt - gewiss ohne böse Absicht - einen Raum, in den ein mehr oder minder latent immer vorhandener Geschichtsrevisionismus eindringen kann und seine Zuhörerschaft und Beifallsbekunder findet. Geben wir uns doch nicht der Illusion hin, Dekonstruktion von Geschichte sei auf rechtsradikale Kreise beschränkt. Eine substanzielle Verfälschung von Geschichte, die Umkehrung von Tätern und Opfern, von Ursachen und ihren Folgen, geht einher mit der Verächtlichmachung von Opfern und Verharmlosung von Tätern, wie uns Frau Steinbach gerade in aller Offenheit mit bei Politikern selten gekannter Chuzpe vorführt.
Dagegen müssen wir uns einen Zugang zu Geschichte bewahren der Vergangenheit nicht als abgeschlossen, als so, wie sie gewesen ist, betrachtet, sondern der die Frage nach dem Kontrafaktischen stellt, nach den Bedingungen, Möglichkeiten der untelegenen Handlungen. Dann kann Begreifen mit und aus Geschichte gelingen. Wenn wir über das Kontrafaktische, das "wie es nicht und doch auch gewesen ist", von Geschichte nachdenken, wenn wir uns Vergangenheit als damalige Gegenwart mit offener Zukunft für die damals Handelnden vorstellen, wenn wir die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen als damals offenen Prozess verstehen und so die "unterlegene Geschichte" zur Kenntnis nehmen
4, erst dann können wir Geschichte als Lernfolie für politisches Handeln heute nutzen. Nicht fantasierend oder gar von Rechfertigungswünschen des Jetzt für damals oder heute inspiriert und motiviert, sondern quellengesättigt getragen von Fakten, Analysen, Gedanken, Politiken der damals Handelnden. Wir skizzieren damalige Optionen in der Ausstellung, indem wir zum Handeln der Gegenakteure, der Demokraten, Republikaner und auch kommunistischer Systemveränderer Stellung nehmen. Wir sollten diese Ansätze erweitern:
Begreifen heißt nämlich auch und in erster Linie, ein historisches Geschehen auf bestimmte Begriffe bringen. Das hat seinen Sinn, weil sich damit konkrete Abstraktionen und Verallgemeinerungen erschließen, die es ermöglichen, sich ein Verstehen hinter dem Bild von Geschichte, das schon schwierig genug zu zeichnen ist, zu erarbeiten. Lernen heißt dann nicht nur, sich zu einem "Nie wieder" oder "wehret den Anfängen" als Normativ für
gesellschaftliches Zusammenleben heute zu entschließen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Solche Art des Erinnerns im Gedenken droht zu einem Ritual von Leerformeln zu verkommen, weil in ihr Vergangenes von der Gegenwart entkoppelt wird.
Dann wird Geschichte schnell als Ballst empfunden, die Beschäftigung mit ihr als "Moralkeule" (Martin Walser) denunziert, oder auch als museale Alibiveranstaltung in sinnentstellender Form präsentiert. Jürgen Habermas hat einmal Erinnerung als Widerlegung einer "fugendichten Normalität dessen, was sich nun mal durchgesetzt hat",
5 bezeichnet und damit ihr Potential gegen eine rationalisierende Einebnung von Widersprüchen, historischen Brüchen und realem aber verlorenen Gegenwelten beschrieben.
Lernen im Sinn von Begreifen bedeutet, aktiv an der Gestaltung unseres Gemeinwesens zu arbeiten, nicht damit die Welt "unser" werde, eine hoch parteiische, spaltende Vision, sondern besser. Dazu gehört, dass wir die Zeit, die wir haben, zur Erarbeitung von politischem Urteilsvermögen nutzen - eine Zeit, die die Gesellschaft von Weimar nicht hatte.
Kontrafaktisch heißt also nicht, Geschichtsschreibung nach den ideologischen Bedürfnissen der Gegenwart zu modeln - eine sehr beliebte Übung von interessierter Seite
6 -, sondern heißt, andere Fragen zu stellen, Geschichte als Handlungsprozess wahrzunehmen.
Was meint das konkret? Wir haben es in Weimar mit einer tief gespaltenen, von sozialen und politischen Gegenwarts- und Zukunftsentwürfen, die sich diametral entgegen standen, getriebenen Gesellschaft zu tun. Getrieben meine ich hier wörtlich, denn wir müssen uns immer - auch in Hinblick und im selbstvergewissernden Vergleich zu heute - vor Augen führen, in welch immens beschleunigter Zeit die Menschen damals gelebt haben. Die Zeit
der Harzburger Front ist eine der dramatischen politischen, sozialen und ideologischen Veränderung.
In Weimarer Zeiten 1931/32 lebten aktiv arbeitende und politisch handelnde Menschen, die einen Weltkrieg miterlebt hatten, eine einheimische unvollendete Revolution, eine Weltrevolution in Russland, eine Inflation ungekannten Ausmaßes und nun in einer Weltwirtschaftskrise steckten, die massenhafte Armut und Elend, Deprivation und politische Orientierungslosigkeit erzeugte. Sie waren in einem Kaiserreich der Untertanen geboren, in
dem jede Regung zu gesellschaftlicher Veränderung von der Staatsgewalt verfolgt wurde.
Nun waren sie eigentlich aufgefordert, eine Gesellschaft des Diskurses mit zu gestalten.
Stattdessen wurden die Klassenantagonismen in ideologisch zementierter Gestalt bestimmend für das Leben. Dieser Zustand wurde und wird in der Politik- und Geschichtswissenschaft oft so gedeutet, dass Weimar an den Antagonismen zwischen Rechts und Links gescheitert sei. Da ist natürlich viel Richtiges dran, nur darf man analytisch hinzufügen, dass das Ankommen in und Gestalten von Demokratie ein mühsamer und langwieriger, nie endender Lernprozess ist, ein Prozess der Zeit benötigt, Zeit den die politischen und sozialen Kämpfe in der Gestalt, wie sie geführt wurden, nicht gewährten.
Führen wir uns vor Augen, welche Veränderungsprozesse in der Biografie eines erwachsenen Menschen, sagen wir 1890 geboren, also 1930 im besten Alter, sich in diesen 40 Jahren vollzogen haben: 1914 schwärmte der Kaiser und mit ihm die Elite des Landes vom "Platz an der Sonne" und brach den "Großen Krieg" vom Zaum, in den unser junger Mensch, sofern er männlichen Geschlechts war, mehr oder minder begeistert ziehen musste. 1917 schien nach Brest-Littowsk der weite Osten nach deutschen Kolonialisten zu rufen. Ein Jahr später war unser fiktiv-reales Wesen in einen Epochenbruch gerissen, der Deutschland mit ganzer Kraft erfasst hatte: weite Teile Europas waren verwüstet, der Kaiser ging auf der Flucht vor Revolution und Republik ins Exil, freischärlende politisch-militärische Verbrecherbanden suchten autokratische Macht wiederherzustellen, der europäische Osten
wurde zur Schimäre - und zur erklärten Aufgabe revanchistischer Politik von Hugenberg bis Hitler.
Und weiter in Stichworten: Kapp-Putsch-Versuch 1920 und Genrealstreik, Republiksturzversuch 1923 durch Hitler-Ludendorff, Hyperinflation und Rentenmark, kurzes Luftholen, Regierungskrisen und dann Weltwirtschaftskrise, Notverordnungen, Straßenkämpfe, Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger für viele, protzender Reichtum für wenige.
Spannen wir den Zeitrahmen noch enger und vergegenwärtigen uns: Die Nationalsozialisten erhielten bei den Reichstagswahlen 1928 2,6% der Stimmen (das waren 800.000 Wähler- und Wählerinnen). Zwei Jahre erzielte die NSDAP 6,4 Millionen Wahlstimmen und vier Jahre später wurde sie mit 13,7 Millionen Wählern und Wählerinnen und 230 Sitzen stärkste Reichstagsfraktion. Fünf Jahre nach 1929 erlangten sie gewaltsam und huldvoll gefördert von den deutschen Eliten die Macht.
Dieser Zeitraum misst wenig mehr als bei uns eine Legislaturperiode. Erinnern Sie sich noch, was in der großen Koalition bei uns politisch Entscheidendes geschehen ist?
Die Epoche von Weimar war nicht nur eine ungeheuer beschleunigte Zeit, es war auch eine Ära der Unversöhnlichkeit politischer Anschauungen und ihrer Äußerungen, eine Zeit auch staatlich-administrativer Reglementierung und Zensur. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Gegensätze, der Suche nach Freiheit in politisch-sozialer Utopie und gnadenloser Reaktion. Hier standen Bataillone militanter Militaristen und Revanchisten weniger gut organisierten erklärten Pazifisten gegenüber, Reformer und bolschewistische Weltrevolutionäre, völkisch-rassistisch-nationalistische Kleingeister in gewalttätiger Großprotzmanier und Literaten und Künstler aller Branchen in selten gekannter Produktivität und innovativer Schaffenskraft. Die Führung einer gut organisierten Arbeiterschaft hatte im tätigen Versprechen, die revolutionären Forderungen von 1918/19 zu relativieren, den Unternehmern Rechte und Zugeständnisse abgerungen, die binnen ganz kurzer Lebenszeit Stück für Stück kassiert wurden. Den praktischen Experimenten freier Erziehung standen stockbewehrte Monokelträger in deutschen Schulklassen gegenüber. Neue musikalische Ausdrucksformen in Lied, Oper oder Revue entwickelten sich gegen blechernde Marschmusik bei Weihen und anderen vaterländischen Zeremonien. Die Literaten der Weltbühne wurden permanent vor den Kadi gezerrt, ein pazifistischer Film wie Westen nichts Neues zensiert, Kinobetreibern die Schaufenster beschmiert oder eingeworfen, derweil sich die Front alter und neuer Krieger neu formierte. Während auf den Theaterbühnen mancher
Metropole die Kunst revolutionierende Stücke und Ausdrucksformen erprobt und auch bejubelt wurden, entwickelten sich Kyffhäuser und das Deutsche Eck zu Pilgerstätten völkischer Heilsvisionen, wurden in deutschen Provinzen Wettbewerbe um ein Reichsehrenhain ausgelobt. Bahnbrechende, öffentlich diskutierte Sozialwissenschaft versuchte diese Neue Zeit zu analysieren und zu erklären. Jeder kennt heute die Bedeutung der Namen Walter Benjamin, Karl Korsch, Sigmund Freud oder Herbert Marcuse, um nur ganz wenige zu erwähnen. Debatten und konstruktive Reformideen für Weimar gab es viele und hoch qualifizierte, ich nenne als Forum nur die von Rudolf Hilferding herausgegebene Zeitschrift Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik. Die Welt hatte sich im Kultur- und Wissenschaftsaustausch internationalisiert, Berlin war eine Weltmetropole geworden mit engen Verbindungen zu Prag, Paris, London, Moskau, New York und auch Hollywood. Den Ausdruckformen und Hoffnungen auf eine andere, freiere und soziale Gesellschaft schlug tiefer dumpfer Hass, weniger des indifferenten deutschen Michel als vielmehr der Front vielsprechender und auflagenstarker Restauration und völkisch-deutschtümelnden Aufbruchs entgegen. Man kann sie näher charakterisieren, sie waren in Harzburg unmittelbar oder im Geiste anwesend. Ergänzend zur Ausstellung, dem Katalog und unserer Broschüre von 2007
7 liefern einige biografische Ordner Material.
Die Versuche, Ansätze, Visionen einer anderen Gesellschaft wurden zunehmend mit Gewalt - auch staatlich beförderter - eingedämmt, bis sie unter dem Johlen der deutschen Elite 1933 zu Asche verbrannt, ihre Protagonisten ins Exil vertrieben, verhaftet, geschunden und manche ermordet wurden. Immer wieder werden wir vor der Frage - salopp formuliert - stehen, was ist schief gelaufen? Kann man davon sprechen, dass irgendwann die
Entwicklung unumkehrbar war? Und wenn, warum, wie ist es dazu gekommen? Oder mit Sebastian Haffner zu fragen, wie konnte es sein, dass eine Mehrheit im Frühjahr 1933 plötzlich "verschwunden" war, eine Mehrheit, die doch wusste, was mit Hitler bevor stand.
"Was ist mit Ihnen? Gehören sie wirklich zu diesem Irrenhaus? Merken sie nicht, was mit ihnen geschieht - und was in ihrem Namen geschieht? Billigen sie es etwa gar? Was sind das für Leute? Was sollen wir von ihnen halten? Tatsächlich stecken hinter diesen Unerklärlichkeiten sonderbare seelische Vorgänge und Erfahrungen - höchst seltsame, höchst enthüllende Vorgänge, deren historische Auswirkungen noch nicht abzusehen sind."
8
Diese Fragen stellen wir an die Geschichte als damalige Gegenwart immer noch, um zu begriffenen Urteilen über die Vergangenheit zu gelangen. Wir können mit diesem Verfahren Geschichte natürlich nicht mehr zurückdrehen, aber wir können dies Begreifen in Konsequenzen für politisches Handeln heute münden lassen.
Wir haben unserer ersten Broschüre zur Harzburger Front den Titel "Fanal zur Zerstörung einer demokratischen Republik" gegeben. Damit bezeichnen wir implizit die Phase des Halbjahres 1931/32 als Point of no Return. Dies in der Einsicht, dass mit den Ereignissen in Bad Harzburg und Braunschweig die marodierende, sich aus Grenzgebieten gescheiterter Existenzen rekrutierende Gewaltgesellschaft der Nationalsozialisten am Leben gehalten wurde von denjenigen, die - als Mitte der Gesellschaft bezeichnet - in wohllebigen und geordneten Systemen existierten und arbeiteten: die staatliche- und Militärbürokratie, die Intellektuellen und Halbintellektuellen aus Schule, Hochschule und Redaktionsstuben, Unternehmer und Richter, Pastoren und Dichter und so weiter. Ehe sich die für das Funktionieren einer demokratischen Republik notwendigen Formen eines gewaltfreien, auf lebenswerte Zukunft orientierten Diskurses ausbilden konnten, haben die potenziellen Leistungsträger dieser Ordnung sich selbst entmündigend und damit das Gemeinwesen zerstörend dem Führer tatkräftig ihre Kooperation angedient.
Die Tatsache, dass die Herstellung der Gemeinschaft von Rechtsextremismus und Zentrum der Gesellschaft so relativ reibungslos und sehr schnell funktionierte, hat viel mit damit zu tun, dass die Anstrengungen der politisch wachen und aktiv arbeitenden demokratisch-republikanischen Mehrheitsgesellschaft keine ausreichende Widerstandskraft entfalten konnte. Weil sie so gespalten war, lautet unsere gängige Interpretation dieses Unvermögens.
Doch was heißt Spaltung eigentlich? Mit - hier Sozialdemokraten dort Kommunisten, dazwischen ein paar Syndikalisten und frei schwebende Intellektuelle Kreise bei kaum noch vorhandenen bürgerlichen Demokraten ist sie nicht hinreichend gekennzeichnet. Denn Spaltung bedeutet - jetzt ganz verkürzt - die Zersplitterung eines Gemeinwesens in Partikularinteressen und den Kampf um die Durchsetzung dieser aus subjektiven
Empfindungen und Lebensentwürfen gespeisten Interessen in und gegen diejenigen von anderen.
Der Anspruch an eine Republik als Form politischer und sozialer Ordnung geht dahin, diese Interessen in geordneten, rechtsstaatlichen und gewaltfreien Verfahren zur Geltung bringen zu können. Deshalb gibt es etwa Parteien und Verbände. Der Anspruch von Demokratie kann es nicht nur sein, dieser Ordnung durch Abstimmungen und Minderheitenschutz Legitimation zu verschaffen. Demokratie formuliert den Imperativ der "Sorge um das ganze Haus". Diese Sorge verlangt den Gemeinwesenbürger. Das ist der Citoyen, der versucht, die Spaltung der Wirklichkeit in seine subjektiven Orientierungen und die Pflege des Systems sowie der Inhalte demokratischer Institutionen klein zu halten, sich also auch einmal im
Interesse des Gemeinwesens zurückzunehmen.
Diese Ansprüche sollten wir uns vor Augen halten: kaum etwas von den lang erkämpften Errungenschaften unserer politischen Ordnung wird gesichert sein, wenn nicht ständig um zumindest erträgliche Verhältnisse in einer demokratischen Republik gerungen wird.
Dagegen bilden sich "Schwarzmarktfantasien, die auf die Spaltung dieser Wirklichkeit drängen"
9 und deren Ergebnis nur die Sprengung des Gemeinwesens sein kann:
Steuerflucht und gated communities, verbissene Arbeitsplatzverteidigung gegen Arbeitsuchende, shareholder-Bewusstsein und -Handeln von Rentiers und Erben sind ebenso Ausdruck dieser Wirklichkeitsspaltung wie Wahlverweigerung oder Jagd auf Fremde.
Man sehe sich die zunehmende soziale und kulturelle Spaltung unserer Gesellschaft und die dazu verbreiteten ideologischen Rechtfertigungen des Kapitalismus als marktwirtschaftlichen Konkurrenzmechanismus mit betriebswirtschaftlichen Imperativen an.
Wenn wir heute zum neuen Rechtsextremismus, der meines Erachtens mit zunehmender Berechtigung als neuer Nationalsozialismus treffend zu kennzeichnen ist, Stellung nehmen, dann geschieht dies aus Sorge um die zunehmende Spaltung und Gewaltförmigkeit unserer Gesellschaft. Diese wiederum ist Ausdruck von institutionell-administrativer und subjektiv um Vorteile bedachter Ausgrenzung des Anderen, des Fremden, des Arbeitsplatz- oder Wohlfahrtskonkurrenten. Die Sarrazinisierung von Gesellschaft kann das auch genannt werden.
Wir haben vielleicht noch ein wenig Zeit für die Herstellung von politischen Diskursebenen, auf denen freie Gesellschaften in Verantwortung für die Gemeinwesen der Welt Zukunft tragende Entscheidungen treffen können. Die Gesellschaft von Weimar hatte die nicht. Wenn man sich die Irrungen und Katastrophen damaliger Zeit vor Augen führt, könnten wir fast dankbar für das Gefühl sein, dass sich die Gesellschaft heute zu wenig bewege, zu behäbig und allmählich, bei allem medialen Bohei um Kleinigkeiten das Aussitzen zur Hochkultur jeder Debatte erhebend, dahintrotte. Ich meine das jetzt nicht wirklich so - denn wenn wir Entscheidungen hinausschieben, können sich Widersprüche und ungelöste Problem, gesellschaftsanalytische Irrtümer und politisches Versagen in zerstörerische Dimensionen auswachsen.
Wir werden nicht umhin kommen, uns einzumischen, Politik und Macht nicht - frei nach Hegel - den modernen Geschäftsführern des Weltgeistes, der Managerkaste in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien, zu überlassen. Erinnerungsarbeit, wie wir sie verstehen möchten und wie wir sie hier präsentieren, ist integraler Bestandteil der Selbstvergewisserung zur Erlangung von politischer Urteilskraft.
Lassen Sie mich schließen mit einer öffentlichen politischen Lagebeurteilung von Carl v. Ossietzky vom 3. Januar 1933 mit dem Titel Wintermärchen:
10 Der Artikel beginnt:
"Am Anfang des Jahres 32 stand die Nazidiktatur vor der Tür, war die Luft voll Blutgeruch, schien die Erfüllung des Programms von Boxheim nur eine Frage der Zeit zu sein. An seinem Ende wird die Hitlerpartei von einer heftigen Krise geschüttelt, sind die langen Messer still ins Futteral zurückgesteckt und öffentlich sichtbar nur die langen Ohren des Führers. Die deutsche Entwicklung geht nicht glatt aber rapid."
11
Der Artikel endet:
2Die Hitlerpartei betont gern ihre Andersartigkeit, und sie darf in der Tat nicht mit hergebrachten Normen gemessen werden. Würde sie heute jäh in Atome zerspringen, so bliebe doch das Faktum bestehen, dass sie noch vor kurzem fünfzehn Millionen Wähler gefunden hat. Sie muss also nicht nur einem politischen Bedürfnis sondern auch einer speziellen deutschen Gemütslage entsprechen. Ihre Brutalität, Großmäuligkeit und Hirnlosigkeit haben nicht abschreckend, sondern anziehende gewirkt und bedingungslose Gefolgschaft gefunden. Das bleibt eine nicht leicht zu beseitigende Tatsache. Die Nationalsozialistische Partei hat für fünfzehn Millionen Deutsche genau das erfüllt, was sie sich unter einer politischen Partei vorgestellt haben. Niemals ist das deutsche Bürgertum in einem Säkulum so ehrlich gegen sich gewesen wie in diesen paar Jahren nationalsozialistischen Wachstums. Da gab es nicht mehr intellektuellen Aufputz, nicht mehr geistige Ansprüche, nicht mehr akademische Fassade reicherer Jahrzehnte. Der ökonomische Zusammenbruch hat die innere Rohheit, die plumpe Geistfeindlichkeit, die harte Machtgier bürgerlicher Schichten - Eigenschaften, die sich sonst halb anonym hielten oder in private Sphäre ableiteten - offen bloß gelegt. Nur einmal haben nationalistischer Blutrausch und politische Hilflosigkeit so bedenkenlos Hochzeit gefeiert, und das war zu Kriegsbeginn. Insofern ist die Nationalsozialistische Partei der in Permanenz erklärte 4. August. Sie trägt am deutlichsten die Illusion dieses traurigen Datums der deutschen
Geschichte in eine veränderte Zeit.
Der große völkische Führer mit dem Äußern und den Allüren eines Zigeunerprimas mag seine Saison haben und mit dieser abblühen. Was er an bösen und hässlichen Instinkten hervorgerufen hat, wird nicht so leicht verwehen und für lange Jahre noch das gesamte öffentliche Leben in Deutschland verpesten. Neue politische und soziale System werden kommen, aber die Folgen Hitlers werden aufstehen, und spätere Generationen noch werden
zu jenem Gürtelkampf antreten müssen, zu dem die deutsche Republik zu feige war."
12
Welch tragische Komposition von klarsichtiger Analyse und verhängnisvollem politischem Irrtum!
Aus beidem sollten wir lernen.
1 Der Vortrag von J. Perels ist im Ausstellungskatalog abgedruckt, der von S. Steinbacher wird in einer für das Frühjahr nächsten Jahres geplanten Edition aller im Rahmen der Ausstellungspräsentationen gehaltenen Vorträge erscheinen. Vgl. auch pdf auf www.harzburgerfront.de
2 Oskar Negt 2010: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen, S.36
3 Ausführlicher: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern an der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung".
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik, Pädagogik, I: Werke in sechs Bänden, Bd. VI, Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1964, S.53.
4 "In jedem gegebenen geschichtlichen Augenblick gab (und gibt) es Alternativen. Sie zu unterschlagen, weil sie nicht realisiert wurden (oder werden, P.S.) bedeutet die Wirklichkeit grundlegend zu verkennen." Hugh Trevor- Roper 1980: History and Imagination, Oxford, S.2. In Menschenwelten haben wir es stest mit Handlungsalternativen zu tun, das wissen wir schon seit Aristoteles. "Wäre es nicht so, so gäbe es - wider allen deterministischen Vorstellungen und trotz der Zwänge jeweils gegebener Handlungsbedingungen - keinerlei Bedarf an Politik als kollektiv bindendem Entscheiden."
Aristoteles: "Der Ursprung des Handelns ... ist die Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten. Der ursprung der Entscheidung ist das Streben und die Reflexion, die den Zweck aufzeigt. ... Das Debken allerdings setzt nichts in Bewegung, erst wenn es sich auf einen Zweck (telos) und auf ein Handeln (prxis) einstellt."
Nichomaische Ethik. Buch VI. Stuttgart 1969, S.155.
5 Jürgen Habermas 1987: Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/Main, S.175.
6 Legendenbildungen werden nämlich seit geraumer Zeit für diese so kurze aber zentrale Epoche deutscher Geschichte der Weimarer Republik eifrig gefertigt von jüngeren Wissenschaftlern, die plötzlich das Weimarer Bürgertum als prinzipiell liberal-republikanisch-demokratischen Hort von deutscher Gesellschaft des 20. Jahrhunderts überhaupt entdecken. Das allerdings wider aller bisher als gesichert geltenden Kenntnis von Geschichte aus einem einzigen Grund: weil sie das Bürgertum der Jetztzeit zum Träger gesellschaftlicher Vernunft und Verantwortung stilisieren wollen. Ich meine zuvörderst den medial so hoch gejazzten Paul Nolte, Professor für Geschichte in Berlin. Paul Nolte, 2000: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München (Habil. Mai 1999, Bielfeld.) Synoptisch dazu gelesen: Paul Nolte 2004 (4): Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München wird seine Vergangenheitsinterpretation begreifbar.
7 Verein Spurensuche Harzregion (Hg.) 2007 (20092): Harzburger Front von 1931 - Fanal zur Zerstörung einer demokratischen Republik. Historisches Ereignis und Erinnern in der Gegenwart. Eine Dokumentation, Goslar.
8 Sebastian Haffner 2000(5): Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart/München, S.173.
9 Negt, a.a.O., S.25.
10 Die Weltbühne, 29. Jg. v. 3. Januar 1933 S. 3-4
11 Zur Erläuterung: Die von Werner Best, damals Amtsrichter und Rechtsberater der NSDAP später Chef des Amtes Verwaltung und Sicherheit im Reichssicherheitshauptamts, im Sommer 1931 entworfenen sogenannten Boxheimer Dokumente waren eine Handlungsanleitung zur Zerschlagung der politischen Gegner im Fall einer Usurpation der Macht durch die Nationalsozialisten. Sie gelangten noch vor dem Treffen der Harzburger Front an die Öffentlichkeit und erregten einige Aufmerksamkeit.
12 Diese Worte stammen aus der Feder von Carl v. Ossietzky kurz nachdem ihn die Republik aus dem Kerker, in den sie ihn wegen Enthüllungen über die Reichswehr für 18 Monate eingesperrt hatte, entlassen hatte. Wenige Wochen später wurde er von den NS-Machthabern ins KZ verbracht. Er starb 1938 an den Folgen der erlittenen Haft.
| landesmuseum || braunschweig || harzburger front || ausstellung || vortrag || rede ||
|| 5491 Mal gelesen, zuletzt am 27.11.2023 um 01:17:04 |