- Forschungs- und Erinnerungsarbeit zu Zwangsarbeiterschicksalen und NS-Geschichte im Harzgebiet -
Harzer Gedenktag 2005 für die Opfer des Nationalsozialismus in Seesen-Münchehof
Verein Spurensuche Goslar e.V. und Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion
Donnerstag, 27. Januar 2005
Harzer Gedenktag 2005 für die Opfer des Nationalsozialismus in Seesen-Münchehof:
Münchehof im Harz 1933 - 1945
Vorträge mit begleitender Wandtafelausstellung und Diskussionen zu Ereignissen und Plätzen nationalsozialistischen Unrechts und Zwangsarbeit in Münchehof und Umgebung. Hierzu zählen auch die Ereignisse um die durch Osterode nach Bergen-Belsen gerichteten Evakuierungstransporte und Todesmärsche.
Die Veranstaltung findet im Dorfgemeinschaftshaus Seesen-Münchehof am 27.1.2005 von 16.30 - 20 Uhr statt.
Eintritt frei!
Programm:
16.30 Uhr: Gang vom Dorfgemeinschaftshaus zum Friedhof; Kranzniederlegung an der von der Reservistenkameradschaft "Sehusa" Seesen sanierten Grabstätte der 23 KZ- Häftlinge
17.00 Uhr: Beginn der Veranstaltung im Dorfgemeinschaftshaus
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Grußworte: Joachim Pedroß, Ortsbürgermeister von Münchehof, und Hubert Jahns, Bürgermeister der Stadt Seesen
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Einführung: Frank Jacobs, 1. Vorsitzender Spurensuche Goslar e.V.
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Referat Wolfgang Janz: Der 27.1. und das Geschehen in Münchehof
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Referat Firouz Vladi: Hasenjagd und Todesmarsch - April 1945 zwischen Osterode und Seesen
Zeitzeugenberichte von Irmgard Horn (Jg. 1930): Als im Frühjahr 1945 der Krieg seinem Ende zuging, war ich 15 Jahre alt und machte mein Pflichtjahr (so nannte man es damals) in einer Familie hier in Münchehof. Es gab immer öfter Fliegeralarm bei Tag und bei Nacht, und man verbrachte viel Zeit im Luftschutzkeller. Dort hatte man sich schon häuslich eingerichtet mit Sitzgelegenheiten, Kissen und Decken und immer einem Koffer mit den wichtigsten Papieren. Schaufel und Spitzhacke standen immer bereit für eventuelle Ausgrabungsarbeiten. Auf den Hausböden standen Sand und Wasser, um etwa Feuer durch Brandbomben zu löschen.
Nun, wir hatten ja Glück gehabt, denn in den ganzen Jahren waren wir von Bombenabwürfen verschont geblieben. Nahe dem Kalkwerk auf den Gleisanlagen waren einmal zwei Bomben gefallen und auch einmal des Nachts am Törenberg. Wenn die Großstädte wie Braunschweig, Hildesheim, Hannover oder Kassel bombardiert wurden, sah man die riesigen Feuerscheine und hörte das Detonieren der Bomben. Wir haben oft dem lieben Gott gedankt, dass wir auf dem Lande wohnten und dieses Inferno nicht mitmachen mussten.
Eines Tages, es war Ende März - Anfang April, kam eine große Kolonne mit Häftlingen in ihren gestreiften Anzügen daher gezogen, begleitet von Soldaten der Wehrmacht.
Gegenüber am Ortsausgang war eine Runkelkuhle von Bauer Röbbel; dorthin lief der eine oder andere Häftling und holte sich so eine Runkel, um sie zu essen. Die Soldaten ließen sie auch gewähren.
Es war eine große Anzahl von Männern, und man fragte sich, wo kommen die alle her? Man wusste zu der Zeit, dass es Arbeitslager gab und diese Leute irgendwo eingesetzt wurden. Irgendjemand sprach auch vom Lager Dora, welches da bei Nordhausen läge. Eine Nachbarin sagte hinter vorgehaltener Hand: "Jetzt hat Adolf seine Zuchthäuser aufgemacht, nun ist alles aus."
Wir hörten natürlich auch laufend Nachrichten aus unseren kleinen Volksempfängern, die uns Glauben machten, dass die Amerikaner noch weit weg von uns seien und alles auf die neue Wunderwaffe setze, die im Bau sei. Es hörten aber auch manche den englischen Sender, und daher wussten wir, dass die feindlichen Truppen schon ganz in der Nähe waren.
So etwa ab dem 7., 8. April hörten wir Geschützdonner. Da wussten wir, jetzt ist es so weit, die Amis kommen. Tagelang waren schon deutsche Truppen durchgezogen, und es hieß: Der Harz wird verteidigt.
Am Abend des 9. April waren schon amerikanische Panzer auf dem Asseken gesichtet worden.
Ich war dann zu Haus bei meiner Mutter. Meine Chefin hatte gesagt: Du kommst erst wieder, wenn alles vorüber ist.
Wir bekamen dann noch Einquartierung von einer Familie aus Seesen, Vater, Mutter und Kind. Der Mann hatte seine frisch operierte Frau aus dem Osteröder Krankenhaus geholt und war dann nicht mehr weiter gekommen.
Die Nacht ging vorüber zwischen Bangen und Hoffen, und der neue Tag fing mit Artilleriefeuer an. Viele Einwohner mit Pferde- oder Handwagen verließen das Dorf, um in der Nähe der Tiefen Kuhle Schutz zu suchen. Wir blieben im Keller.
Vor dem Haus waren noch deutsche Soldaten, die meine Mutter mit Kaffee versorgte, bis sie dann gegen 9. 30 abrückten. Unsere Kellerfenster hatten wir mit alten Sofakissen verstopft, um so vor Granatsplittern geschützt zu sein.
Gegen 11 Uhr war plötzlich Feueralarm, und einer unserer Hausbewohner, der Feuerwehrmann war, musste den Keller verlassen, um mit zu löschen.
Als er nach etwa einer Stunde zurückkam, berichtete er, dass das Schlachtehaus von Heinrich Knoke einen Treffer erhalten hatte und abgebrannt sei und sie nicht mehr viel machen konnten. Dass aber die Amerikaner schon bei Ahlborn in den gegenüber des Spritzenhauses gelegenen Häusern seien und die Feuerwehrleute mit einer MG-Salve empfangen hätten, dass ihnen die Kugeln um ihre Beine geflogen seien.
Es war gegen 14 Uhr, als wir sie hörten, die fremden Stimmen. Türen wurden eingetreten, dass die Krampen aus dem Rahmen sprangen. Die Kellertür wurde aufgerissen, und einige Amerikaner kamen die Treppe hinunter mit vorgehaltener Maschinenpistole und bedeuteten den vier Männern mit erhobenen Händen hinauf zu kommen. Die gingen mit schlotternden Knien.
Es wurde auch immer noch geschossen. Die Granaten flogen über uns hinweg in die Harzberge.
Wir blieben noch einige Zeit im Keller aus Sicherheit.
Als wir dann gegen 15 Uhr nach oben gingen, sahen wir die amerikanischen Panzer und die zum Teil farbigen Soldaten.
In den nächsten Tagen überschlugen sich dann die Ereignisse. Hausdurchsuchungen bei Tag und bei Nacht. Sie suchten Soldaten, Waffen und Munition, nahmen aber alles mit, was sie brauchen konnten, Fotoapparate, Schmuck und Geld; Sachen, mit denen sie nichts anfangen konnten, warfen sie einfach wieder weg.
Es gab eine Sperrstunde von abends 9 bis morgens 6 Uhr. Dann sahen wir elende Gestalten, sicher aus dem Zug am Bahnhof, denen die Frauen Suppe kochen mussten aus Trockengemüse. Einer von denen aß eine ganze Dose Schweinefleisch, die er wohl von den Bauern geholt hatte; er konnte nicht aufhören, weil er so ausgehungert war. Die Frauen im Haus warnten ihn, dass er das in seinem Zustand gar nicht vertragen würde. Tage später fand man ihn tot. Auf dem Bahnhof stand ein Zug mit Häftlingen, die dann dort von den Amerikanern befreit wurden. In diesem Zug waren aber auch andere Sachen wie Schmalz, Fallschirmseide, Leder, Leinen, Zahnarztzubehör und verschiedene andere Dinge. Die Bewohner versorgten sich. Meistens erfuhr man erst viel später davon, wenn alles alle war. Auch das RAD-Lager wurde leer gemacht. Betten, Tische und Büromöbel wechselten den Besitzer. Die Besatzungsmacht erließ einen Aufruf, dass alles wieder zurückgebracht werden solle. Aber wer machte das schon. Etliche Tage später wurden dann alle Männer des sogenannten Volkssturms aufgerufen, mit Schaufeln zum Friedhof zu kommen, um Tote zu beerdigen. Jeder fragte sich, was für Tote?
Es stellte sich dann heraus, dass in jenem besagten Zug, der auf dem Bahngelände stand und aus dem die Amerikaner die Häftlinge befreit hatten, es auch viele nicht überlebt hatten und schon vorher verstorben waren.
Insgesamt waren es 23 Leichen, die begraben werden mussten, dazu kam ein deutscher Soldat, der bei den Kämpfen gefallen war. Die Männer haben dann auf dem Friedhof ein Massengrab ausheben müssen, in das sie dann die Toten in mehreren Reihen hinein legten. Otto Ruhe war damals Totengräber und sagte später, dass sie auf Geheiß der Amerikaner die Toten mit Kalk bestreuen mussten, ehe sie sie dann zuschaufelten. An der Stelle, wo der Soldat lag, machten sie ein Zeichen, und man kann heute noch das einzeln eingefasste Grab sehen, in welchem der Soldat ruht.
Eines Tages gab es eine fürchterliche Explosion. Auf dem Bahnhof war ein Munitionswaggon in die Luft geflogen und riss zwei Amerikaner mit in den Tod, die sicher geraucht hatten. Die umstehenden Gebäude waren fürchterlich zugerichtet und konnten zum Teil nicht bewohnt werden.
Schwierigkeiten hatten die Besatzer wohl mit den Uniformen der Deutschen, von denen es ja auch verschiedene gab.
Mein Onkel Richard und Herr Zenge, die beide Eisenbahner waren, wurden im Laufschritt in Begleitung von Amerikanern nach Kirchberg getrieben und mussten bei Meiers an der Scheunentür mit erhobenen Händen stehen und der Dinge ausharren, die da auf sie zukamen. Sie rechneten schon mit dem Schlimmsten. Irgendwann konnten sie dann aber wieder nach Hause gehen, als sich alles aufgeklärt hatte. Man hat sie sogar nach dem Wehrwolf (!) gefragt.
Als dann die Waffen schwiegen und etwas Ruhe einkehrte, war es für uns ungewohnt, keine Sirenen mehr zu hören; es gab keinen Fliegeralarm mehr und auch keine Verdunkelung vor den Fenstern. So oft hatte man von draußen gehört: "Licht aus!", wenn es durch eine winzig kleine Ritze nach draußen schien. Die Zeit war endlich vorbei, und man konnte frei durchatmen. Es blieb uns dann noch die Sorge um unsere Väter, Brüder und Angehörige, die irgendwo in den Kriegswirren steckten und von denen keine Nachricht vorlag.
Anmerkung:
In den 80er Jahren, ich hatte noch mein kleines Lebensmittelgeschäft, kam ein Kunde mit Begleiterin in meinen Laden. Er fuhr ein Auto mit holländischem Kennzeichen und fragte so nebenbei, ob ich denn hier schon länger wohne. Ich erwiderte, dass ich hier geboren sei. Es stellte sich dann heraus, dass er als Besatzungssoldat hier eine ganze Zeit gewesen sei und gegenüber im ehemaligen "Beamtenhaus" logiert war. Dort mussten damals die Bewohner raus und die Besatzer zogen ein. Er wolle jetzt die verschiedenen Orte aufsuchen, wo er als Besatzungssoldat gewesen sei. Gelobt hat er unser Münchehof, dass es so ein schönes, sauberes Dorf geworden sei. Damals wären soviel Misthaufen im Ort gewesen, die man heute nicht mehr sähe. Wir mussten sehr lachen und kamen zu der Feststellung: erstens, dass im Krieg nirgendwo Ordnung ist und dass sich durch die Modernisierung vieles verbessert habe. Wir kamen zu dem Resultat: Nazis und Misthaufen sind beide verschwunden.
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